Haben wir eine akute Wohnungsnot? Gemäss den Medien, ja. Ebenso, wenn man den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zuhört, die dieses Thema in einem ereignislosen Wahlkampfjahr für ihre Kampagne nutzen. Dabei sollte das Thema differenzierter angeschaut werden. Denn der Indikator, der erhoben wird, steht auf wackeligen Beinen, wenn man genauer hinsieht: Es gibt eine Diskrepanz zwischen der Zahl der ausgeschriebenen Objekte auf den Immobilienportalen und der offiziellen Leerwohnungsziffer. Von einer allgemeinen Wohnungsnot sind wir in der Schweiz noch weit entfernt.  

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Als «leer stehend» werden Wohnungen nur erfasst, wenn beispielsweise eine Mieterin ausgezogen ist, aber noch kein neuer Mieter in Sicht ist. Oder wenn Wohnungen fertig gebaut sind, aber noch niemand einziehen will. Aber nicht, wenn eine Wohnung mehr oder weniger nahtlos vom einen zum nächsten Mieter übergeht. In der Stadt Zürich, dem «Ground Zero» der Wohnungsnot, in welcher Mitte 2022 gemäss amtlicher Zählung nur 161 Wohnungen leer standen, finden monatlich jedoch um die 2300 Umzüge statt. 

Auf dem Land gibt es freie Wohnungen

Zudem geht oft unter: Es sind gerade die grossen Städte, die zunehmend mit dem Wohnungsmangel kämpfen. In ländlichen Regionen hingegen stehen überdurchschnittlich viele Wohnungen leer. Auch weil dort in den vergangenen Jahren sehr viel gebaut wurde.

Im Kanton Solothurn ist die Leerwohnungsquote mit 2,39 fast doppelt so hoch wie im Schweizer Durchschnitt, im Thurgau liegt sie bei 1,45 Prozent. Im Berner Jura stehen in vielen Gemeinden 10 Prozent und mehr der Wohnungen leer. Und selbst wenn man ausserhalb der Stadtgrenzen von Zürich schaut, findet man auch dort Ortschaften mit einer stattlichen Zahl an leer stehenden Wohnungen. Freilich, man ist gezwungen, zu pendeln.

Vergessen geht zudem, dass die Wohnungsknappheit in der Vergangenheit wesentlich dramatischer war. Ein Blick zurück zeigt, dass 1989 die Leerwohnungsziffer bei 0,4 Prozent lag, 2003 bei 0,9 Prozent. Aktuell ist sie hingegen bei 1,15 Prozent.  

Die Knappheit hat unter anderem mit der mangelnden Bautätigkeit zu tun. Während zwischen 2015 und 2018 pro Jahr über 50’000 Wohnungen gebaut wurden, ist die Zahl 2022 auf unter 45’000 gesunken. Prognosen für die nächsten Jahre gehen von einer weiteren Senkung aus. Wollen die Investoren und Investorinnen nicht bauen, oder lässt man sie nicht? Manche sehen die Angebotsentwicklung auch als strukturelle Folge stets komplexerer Baubewilligungsverfahren, übertriebener Lärmvorschriften, endloser Rekurse und einer widersprüchlichen Raumplanung.

Die Sorgen der Mieterinnen und Mieter sind real. Doch sie betreffen in erster Linie die grössten Schweizer Städte. Von einer «Wohnungsnot», wie sie die Schweiz zuletzt in den 1980er-Jahren erlebt hat, kann aber derzeit nicht gesprochen werden.