Ist sexuelle Gesundheit wirklich ein politisches Thema oder doch etwas Persönliches? Die Antwort lautet: Sie ist beides. Auf der einen Seite ist sie eng mit den im Grundgesetz definierten Menschenrechten wie dem Recht auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber auch dem Verbot der Diskriminierung verbunden. Dennoch oder vor allem deshalb führt das Thema auf der anderen Seite zu persönlich beeinflussten Grundsatzdiskussionen, da es stark von individuellen Überzeugungen oder Definitionen dieser Gesetze geprägt wird. «Religion, Stadt oder Land, aber vor allem das familiäre Umfeld haben grossen Einfluss darauf, wie Menschen dem Thema Sexualität begegnen», sagt Ben Kneubühler, Leiter des Instituts für Sexualpädagogik und Sexualtherapie in Zürich (ISP). 

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Für beide Aspekte jedoch ist eines klar: Es braucht ausreichend Anlauf- und vor allem Ausbildungsstellen. Und das ist bislang in der Schweiz nicht der Fall. Suchende finden zwar oft Unterstützung bei Fachpersonen anderer Berufsgruppen; diesen fehlt jedoch manchmal das Detailwissen. 

 

Steigender Bedarf

Seit 2016 besteht in der Schweiz die Möglichkeit, einen Master of Arts in Sexologie zu absolvieren – eine fundierte und anerkannte berufsbegleitende Ausbildung, bei der vor allem der menschliche Aspekt im Fokus steht. Voraussetzung ist, dass die angehenden Sexologen oder Sexualtherapeutinnen über Erfahrungen in einem sozialen, therapeutischen, medizinischen oder didaktischen Beruf verfügen. Rund 20 bis 25 Studierende pro Studiengang werden am ISP von Kneubühler und seinem Team gezielt auf die Beratung im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit vorbereitet. Bisher haben vier Jahrgänge, also 83 Studierende, ihre Ausbildung beendet. 74 weitere sind noch dabei. 

Doch das ist viel zu wenig, um die zunehmende Nachfrage der Schweizer Bevölkerung abzudecken. Denn diese steigt seit Jahren an. «Der Bedarf war sicher immer schon da», mutmasst der Experte. «Es fehlte jedoch an entsprechenden Angeboten beziehungsweise war auch die Hürde vorhanden, diese nachzufragen. Hier vollzieht sich ein Sinneswandel.» Nun gilt es, entsprechendes Fachpersonal zu finden und zu fördern, um das Recht auf ein gesundes Leben jedes einzelnen Menschen sicherzustellen.

 

Zahlreiche Betroffene

Laut dem deutschen Berufsverband der Frauenärzte hat beispielsweise jede dritte Frau (temporär) kein Verlangen nach sexuellen Aktivitäten. 11 Prozent berichten über Störungen der sexuellen Erregung. Und 10 Prozent finden den Geschlechtsverkehr unangenehm oder haben dabei Schmerzen. Nicht anders sieht es bei den Männern aus: Laut Experten und Expertinnen sind allein schweizweit rund 300’000 Männer von Erektionsproblemen betroffen, in Deutschland liegt die Zahl bei sechs bis acht Millionen. «Sicher ist nicht jede Funktionsstörung behandlungsbedürftig», so der Leiter des ISP. «Der Leidensdruck ist jedoch gross und kann zu anderen psychischen Phänomenen wie zum Beispiel einer Depression führen.» 

Grundsätzlich geht es im Studium natürlich nicht nur um sexuelle Störungen, auch die Sexualpädagogik oder die psychosoziale Beratung beispielsweise bei sexuellen Übergriffen kommen zur Sprache. Dazu Ben Kneubühler: «Wir beschäftigen uns mit der selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung, der eigenen wie auch derjenigen von Klientinnen und Klienten.» Der Fokus des Studiums liegt somit auf der wissenschaftlichen Analyse der Sexualität und den daraus abgeleiteten praktischen Umsetzungen – also auf dem Theorie-Praxis-Transfer. Die Ausbildung verknüpft hiermit Psychologie, Medizin, Pädagogik und Sozialwissenschaften und beinhaltet viele praktische Ausbildungselemente. 

 

Erfolgreiche Zukunftsperspektiven

Neben dem ISP bietet auch die Hochschule Luzern (HSLU) mit ihrem MAS «Sexuelle Gesundheit im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich» eine entsprechende Ausbildung an. Und die Absolventinnen und Absolventen haben hier ebenso wie am ISP gute Zukunftsaussichten, egal ob als Angestellte bei einem Urologen, in einer gynäkologischen Praxis oder in der Tätigkeit mit einem eigenen (Beratungs-)Unternehmen.

Angeregt wird diese Entwicklung durch Diskussionen rund um Diversität oder Gender. Doch auch der zunehmende Druck der Gesellschaft auf ihre Individuen wird nicht kleiner. «Das Streben nach beruflichem Erfolg und materiellem Besitz beeinflusst die Psyche und damit die physische Konstitution und ist in der Schweiz flächendeckend vorhanden, Tendenz steigend», sagt Kneubühler. «Männer sind davon sicher häufiger betroffen, die Zahl der Frauen aber wächst ebenfalls durch den Anspruch, allen Rollen gerecht werden zu wollen.» 

Die Notwendigkeit von mehr Fachpersonal im Bereich sexuelle Gesundheit ist also dringender denn je. Und das nicht nur wegen der steigenden Prävalenz von sexuell übertragbaren Infektionen (STIs), der wachsenden Vielfalt und der Komplexität sexueller Gesundheitsprobleme, sondern auch wegen der zunehmenden Bedeutung von Prävention und Aufklärung. In einer sich rasch verändernden Gesundheitslandschaft braucht es daher auch in der Schweiz verstärkt engagierte und gut ausgebildete Fachkräfte, um die vielfältigen und wachsenden Herausforderungen adäquat zu bewältigen. Und somit auch mehr Offenheit für Ausbildungen, die vielleicht aktuell noch zu wenig Beachtung erhalten.