Herr Goldhahn, Sie haben das Medizinstudium an der ETH Zürich mitentwickelt. Wie kam es zu diesem neuen Studienmodul? 

Die ETH ist bekannt für Ingenieurwissenschaften und Technologie – die Entscheidung, dass sie seit einigen Jahren nun auch Medizin lehrt, war vor allem strategisch: Wir wollten und wollen Medizinerinnen und Mediziner ausbilden, die nicht nur Patientinnen und Patienten behandeln, sondern das Gesundheitssystem von Grund auf verändern können. Unser Vorteil: Wir hatten keine historischen Altlasten. Wir konnten auf einer grünen Wiese beginnen und uns ganz darauf konzentrieren, wie eine Ausbildung für die Medizin von morgen aussehen muss.

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Zur Person: 

Dr. Jörg Goldhahn ist Professor am Institut für Translationale Medizin sowie Studiendirektor Humanmedizin an der ETH Zürich. Mit über 25 Jahren Forschungserfahrung in klinischen Studien und digitaler Gesundheit gilt er als Pionier in der Nutzung innovativer Technologien.

Wie sah dieser Neuanfang konkret aus?

Wir haben uns drei grundlegende Fragen gestellt: Was müssen Medizinerinnen und Mediziner wissen, um in der Zukunft erfolgreich zu sein? Welche Technologien werden ihre Arbeit beeinflussen? Und wie kann die Ausbildung das fördern? Daraus haben wir drei Grundannahmen abgeleitet: Erstens ist Wissen heute jederzeit verfügbar. Statt reines Auswendiglernen zu fördern, lehren wir, Informationen zu bewerten und kritisch einzuordnen. Zweitens prägen Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) oder Robotik die Medizin immer stärker. Unsere Studierenden müssen die Chancen und Risiken dieser Entwicklungen verstehen. Drittens ist Teamarbeit essenziell. Der «Halbgott in Weiss» ist Vergangenheit – die moderne Medizin ist ein Mannschaftssport.

Das klingt nach einer Abkehr vom klassischen Medizinstudium.

Traditionelle Medizincurricula sind oft über Jahrzehnte gewachsen und spiegeln in unseren Augen nicht mehr die aktuellen Anforderungen wider. Vieles, was in Medizinstudiengängen gelehrt wird, ist bereits veraltet, bevor die Studierenden das Examen ablegen. Technologien und wissenschaftliche Erkenntnisse entwickeln sich so schnell, dass der klassische Lehrbuchzyklus nicht mehr mithalten kann. An der ETH passen wir die Inhalte daher konstant und agil an. Jedes Modul hat bei uns ein «Haltbarkeitsdatum».

Können Sie ein Beispiel für diese Agilität geben?

In der Anatomie ändert sich vielleicht alle zehn Jahre etwas, in der digitalen Medizin aber gefühlt jeden Monat. Wir haben Module, die maximal ein Jahr aktuell bleiben. Ein Beispiel ist unser Kurs zu digitalen Biomarkern: Wie können wir Daten von Smartwatches oder anderen tragbaren Geräten nutzen, um Diagnosen zu verbessern? Solche Fragen sind hochrelevant, aber in traditionellen Studiengängen tauchen sie oft erst auf, wenn die Technologie längst etabliert ist.

Welche Rolle spielt KI in Ihrem Curriculum?

Eine sehr zentrale, wie auch maschinelles Lernen und Automatisierung. Wir sind vermutlich der einzige Medizinstudiengang im deutschsprachigen Raum, der je zwei Semester Mathematik und Informatik umfasst. Das Ziel ist nicht, dass Studierende Algorithmen schreiben können, sondern dass sie die Grundlagen von KI und maschinellem Lernen verstehen. Ohne dieses Wissen wird es künftig schwierig, die Möglichkeiten und Grenzen dieser Technologien richtig einzuschätzen und in Form anwendbarer Lösungen umzusetzen. 

Wie nehmen die Studierenden diesen neuen Ansatz auf?

Studierende, die zu uns kommen, wissen, worauf sie sich einlassen. Wir machen das in der Kommunikation sehr klar. Wir suchen nicht Menschen, die irgendwie Medizin machen wollen, sondern die ein starkes naturwissenschaftliches Interesse haben und die grossen Fragen stellen: Warum funktionieren Dinge, wie sie funktionieren? Diese Haltung zieht sich durch unser ganzes Studium.

Wir sprachen KI an. Wird sie Ärzte ersetzen?

Ärzte, wie wir sie heute kennen, werden überflüssig – und das meine ich genauso provokant, wie es klingt. In bestimmten Bereichen der Diagnostik oder bei administrativen Tätigkeiten brauchen wir aktuell nur noch Ärzte, weil die Dienstleistung nicht abgerechnet werden kann. Dabei lässt sich hier vieles automatisieren, was immense Kosteneinsparungen mit sich bringt. Das ersetzt aber nicht den Patientenkontakt!

Haben Sie ein Beispiel für diesen Effizienzgewinn?

Wir haben während der Corona-Pandemie an der ETH ein System entwickelt, das während der Corona-Pandemie 15’000 Coronatests völlig automatisiert durchgeführt hat – fünfmal schneller und günstiger als traditionelle Verfahren. Kein Arzt war involviert. Doch solche Systeme stossen oft auf Widerstand, weil sie eben nicht «geduldet» sind. Noch mehr aber, weil sie bestehende Geschäftsmodelle bedrohen. 

Wie meinen Sie das?

Es gibt viele Interessengruppen, die verhindern, dass digitale Lösungen in der Medizin umgesetzt werden. Datenschutz ist dabei ein beliebter Vorwand, um die Umsetzung zu verhindern. Tatsächlich sind es eher Berufsgruppen oder Institutionen, die durch Automatisierung Marktanteile verlieren würden. 

Es bräuchte demnach Menschen oder besser starke Institutionen, die auf mehr Effizienz im Gesundheitssystem bestehen …

Ja. Doch in der Schweiz ist der Leidensdruck noch viel zu gering. Die Prämien steigen jedes Jahr, echte Gegenwehr aber gibt es nicht. Wir leisten uns seit Jahren ein überteuertes Gesundheitssystem und das ist bekannt. Wenn in Deutschland ein Spital Geld vom Staat will, wird es geschlossen. Benötigen Spitäler in der Schweiz Geld, um ihre Defizite zu decken, bekommen sie dieses problemlos. Das lässt sich auf die Dauer aber nicht durchhalten.

Praktikable Umsetzungen sollten sich im besten Fall bereits in der Praxis bewährt haben, oder nicht?

Es gilt, anhand von Use-Cases den Gewinn oder vielmehr Mehrwert zu demonstrieren. Also konkret aufzeigen, was ich besser machen kann, und dafür brauchen Sie ein Monitoring. Womit wir wieder bei Algorithmen und maschinellem Lernen sind. Die Flut an Daten kann nur noch effizient auf diese Art und Weise verarbeitet werden. Geleitet von Menschen, die fit in beiden Dingen sind: Technik und medizinischem Fachwissen. 

Wie reagieren eigentlich Kliniken auf Ihre Absolventinnen und Absolventen?

Sehr unterschiedlich. Die innovativen Kliniken erkennen den Mehrwert unserer Absolventinnen und Absolventen sofort. Sie bringen frisches Wissen, technologische Kompetenz und eine ausgeprägte Eigeninitiative mit. Doch es gibt auch Kliniken, die noch mit Faxgeräten arbeiten. Für unsere Studierenden ist das natürlich frustrierend. Aber genau deshalb ist unsere Ausbildung so wichtig: Wir brauchen junge Ärztinnen und Ärzte, die nicht nur mit dem Status quo zufrieden sind, sondern Veränderungen anstossen. Und die brauchen immer mehr Teamarbeit. Medizin ist kein Solospiel. 

Wie zeigt sich das im Studienalltag? 

Unsere Studierenden arbeiten zum Beispiel in interprofessionellen Projekten mit Hebammen oder Pflegekräften zusammen. Parallel führen wir Hackathons durch, in denen wir schon unter Druck, aber mit sehr viel Freiheiten, neue Produkte kreieren. Auf der anderen Seite braucht es Eigeninitiative. Ein Beispiel ist unser «Bring Your Own Patient»-Modell, bei dem die Studierenden reale Fälle aus ihrem Umfeld analysieren und Schwachstellen im Gesundheitssystem aufzeigen müssen. Solche Übungen fördern nicht nur analytisches Denken, sondern auch den Mut, Bestehendes über den Haufen zu werfen.

Warum ist die ETH als Institution hier erfolgreich?

Die ETH hat einen entscheidenden Vorteil: Sie hat keine eigene Klinik und damit keine Interessenkonflikte. Wir sind unabhängig und können uns voll auf Innovation konzentrieren. Zudem arbeiten wir mit einem Netzwerk von Partnerkliniken zusammen, was uns eine enorme Flexibilität gibt. Ein Beispiel ist unser Medlab-Programm, bei dem Assistenzärzte und -ärztinnen mit klinischen Problemen an die ETH kommen und gemeinsam mit unseren Forschenden Lösungen entwickeln. Denn Technik ist keine Bedrohung, sondern eine Chance. Wir können mit KI, Robotik und Digitalisierung so viel erreichen – für Ärztinnen und Patienten. Aber dafür braucht es eine Generation, die bereit ist, bestehende Strukturen zu hinterfragen.

Und was ist mit bereits praktizierenden Medizinerinnen und Medizinern – auch hier sehen einige die Notwendigkeit für einen Wandel …

Dafür haben wir den Master of Advanced Studies Digital Clinical Research entwickelt. Er umfasst einen CAS ETH in Digital Clinical Trials und einen CAS ETH in Digital Health sowie weitere frei wählbare Module. Die berufsbegleitende Ausbildung richtet sich an Ärzte, Gesundheitsfachkräfte und Forschende, um patientenzentrierte Ansätze und neue Technologien in der klinischen Forschung zu fördern. Medizinisches Wissen hat ein Haltbarkeitsdatum, das in vielen Spitälern und Praxen umgesetzte Wissen ist aber in aller Regel überfällig – schon lange. Das kann nicht mehr lange gut gehen.