Von O bis O – von Ostern bis Oktober ist Oldtimer-Zeit. Pünktlich zum Beginn des Frühlings öffnete das Mercedes-Benz Classic Center seine Tore und feierte die Neueröffnung in Fellbach bei Stuttgart (D). Im Classic Center stehen einige Fahrzeuge, die man so schnell nicht mehr auf offener Strasse sehen wird: Es ist ein Schmelztiegel für Oldtimer-Fans. Die «heiligen Hallen», das Archiv, die Oldtimer-Werkstatt und die Originalteileabteilung sind alle unter einem Dach untergebracht, und das hier vermittelte Wissen begeistert Autoliebhaber aus aller Welt. Fünf Seltenheiten stehen im Center bereit, um bewundert zu werden. Die «Handelszeitung» stellt diese Klassiker vor:
Wenn man das Classic Center betritt, empfängt einen gleich ein Fahrzeug grösseren Kalibers. Ein silberner 300 SL Roadster glitzert dem Besucher und der Besucherin entgegen. Das Auto steht gerade zum Verkauf. Über 1,2 Millionen muss der Käufer bei Mercedes auf den Tisch legen, damit er stolzer Besitzer des legendären Roadsters wird. Mercedes schreibt über das Auto: «Offene Zweisitzer sind Ende der 1950er so gefragt, dass Mercedes-Benz den 300 SL entsprechend umgestaltet. Im Frühjahr 1957 löst der 300 SL Roadster den legendären ‹Flügeltürer› ab und macht offenes Fahrvergnügen nun auch in der Klasse der Hochleistungssportwagen möglich.» Das Besondere am Roadster: Mit seiner neuen Hinterachskonstruktion definiert er in puncto Fahreigenschaften den Stand der Technik in den 50ern. 1961 erhält er als erster Mercedes-Benz-Serien-PKW Scheibenbremsen an allen vier Rädern. Damals konnte man einen Roadster für 32’000 Mark kaufen (umgerechnet 16’000 Euro). Siebzig Jahre später wird das Cabrio zwischen 1,2 und 1,8 Millionen Franken gehandelt.
Im Showroom des Classic Centers stehen noch weitere Schätze. Blitzendes Orange, schwarze Rennstreifen, flach wie eine Flunder – und einmal mehr: Flügeltüren. Die C-111-Reihe von Mercedes war in den 60er- und 70er-Jahren mehr ein Versuchskaninchen als eine Reihe gestandener Sportwagen. So hat man zum ersten Mal mit Kunststoffkarossen experimentiert, Turbolader wurden verbaut und Versuche mit Wankel- und Dieselmotoren durchgeführt. 1970 wurde der C 111 II in Genf am Autosalon vorgestellt. Die Karosserie wurde zur Verringerung des Auftriebs an der Vorderachse und zur Verbesserung der Kühlung vollständig überarbeitet. Während zeitgenössische Rennsportwagen auf der Rennstrecke nicht ohne Spoiler und Flügel auskamen, rühmte sich Mercedes, die erforderlichen Abtriebswerte allein aufgrund von intelligentem Design zu erreichen. Mit 350 PS war der Sportwagen damals in 4,8 Sekunden auf 100 Stundenkilometern. Wie oft der C 111 II produziert wurde, ist nicht bekannt. Doch heute kann der orange Flügeltürer bis zu 5 Millionen Franken kosten.
Ein spezielles Auto, das Sammlerinnen und Sammler so vielleicht noch nicht gesehen haben. Die Spezialisten im Archiv im Classic Center leisteten dabei eine Mordsarbeit. Es geht um den SS 27/140/200, in diesem Fall wird er auch der «Maharadscha» genannt. Die Geschichte beginnt im Jahr 1930. Am Pariser Salon wurde das Fahrzeug, das jetzt im Classic Center steht, vorgestellt. Nach dem Salon wurde das Auto am 14. April 1931 nach Cannes an den letzten Maharadscha von Jammu und Kaschmir geliefert. Das Fahrzeug war mit einer Sindelfinger Sport-Viersitzerkarosserie ausgestattet. Der Maharadscha hatte jedoch einen speziellen Wunsch: Das Auto sollte an eine Jacht erinnern, also wurden die Farben und die Ausstattung entsprechend angepasst. Beige- und Brauntöne sollen an die Lackierung der Sportjachten aus der damaligen Zeit erinnern. Dabei nutzte der Maharadscha das Fahrzeug lediglich für eine Strecke von vier Kilometern, welche von seinem Landhaus durch die Wüste bis zum Palast führte. Der SS «Maharadscha» ist seit 2008 in der Mercedes-Benz-Sammlung und wurde komplett nach den Originaldaten restauriert. 2011 und 2014 nahm das Fahrzeug am legendären Mille-Miglia-Rennen teil. 1930 zahlte man 35’000 Reichsmark für den Wüstenschlitten. Der heutige Preis ist unbekannt.
Welcher Name kommt einem in den Sinn, wenn man an den Rennsport in den 50ern denken? Stirling Moss ist wohl der erfolgreichste Rennfahrer aller Zeiten. Vier Vizeweltmeisterschaften in der Formel 1 gewann er, und 16-mal holte er den Grand-Prix-Sieg. 1955 fuhr Moss für Mercedes ins Ziel. Und im Classic Center kommt man aus dem Staunen nicht heraus, wenn man das originale Siegesrennauto von Moss vor sich stehen hat – den 300 SLR 722. Mercedes schreibt: «Sein hohes Leistungspotenzial sowie seine unübertroffene Standfestigkeit und Zuverlässigkeit machten den 300 SLR seinen Konkurrenten weit überlegen, was er durch Siege bei der Mille Miglia, beim Eifelrennen, beim Grossen Preis von Schweden, bei der Tourist Trophy in Irland und beim Targa Florio auf Sizilien sowie durch den Gewinn der Sportwagen-Weltmeisterschaft unter Beweis stellte.» Besonders spektakulär war jedoch der Doppelsieg bei der Mille Miglia 1955: Stirling Moss und Beifahrer Denis Jenkinson siegten mit der Startnummer 722 nach 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden mit der bis heute unübertroffenen Durchschnittsgeschwindigkeit von 157,65 Kilometern pro Stunde. Ein Auto, das unbezahlbar ist und es auch bleiben wird. Mercedes behält es nämlich in seiner Sammlung.
Der Targa-Florio-Zweiliter war ein Auto, das schon 1924 Geschichte schrieb. Der Motor wurde ursprünglich von Ferdinand Porsche entwickelt. Durch den Kompressor des Vierzylinders konnten die Zuverlässigkeit und die Leistung des Motors erheblich gesteigert werden. Das Auto erreichte von 67,5 PS/49,7 kW ohne und 126 PS/93 kW mit Kompressor bis zu 150 PS/110 kW mit Kompressor am Ende der Entwicklung. Als Höchstdrehzahl werden 4500/Minute beziehungsweise 4800/Minute angegeben. 1924 stehen gleich vier Mercedes-Zweiliter-Targa-Florio auf der Startposition. Das Kultrennen in Sizilien sollte ein historischer Tag in der Renngeschichte von Mercedes werden. Die Wagen wurden rot lackiert und damit in einer Rennfarbe, die eigentlich italienischen Fabrikaten vorbehalten war. Man wollte auf diese clevere Weise verhindern, dass allzu feurige sizilianische Rennbesucher sich dazu verleiten liessen, weiss lackierte, also erkennbar deutsche Fahrzeuge, aktiv im Rennen zu behindern. Ein Werksfahrer von Mercedes belegte nach über sechs Stunden den ersten Platz des Wettkampfes.
Dieser Artikel ist im Millionär, dem Magazin der «Handelszeitung», erschienen (Juni 2024).