«Mir ist ein sicherer Arbeitsplatz bei einer Behörde wichtig – bei der ganzen Unsicherheit, die um uns herum herrscht – sowie eine gute Work-Life-Balance», erklärt mir eine Frau in den Zwanzigern an einer privaten Feier. Ein Mann in meinem Alter vertraut mir an, dass er die Jahre bis zur Rente bereits zähle. Solche Aussagen beschäftigen mich. Wo ist da die Freude an und die Leidenschaft für die tägliche Arbeit, für Leistung im Team, Erfolg? Ist man nicht erst so richtig gut, wenn man mit Verstand und Herz dabei ist?
Die Autorin
Antje Kanngiesser ist CEO der Alpiq Gruppe
Was bedeutet diese Haltung für Unternehmen, die sich stetig verändern müssen, um die wirtschaftlichen und geopolitischen Herausforderungen meistern zu können, und deren wichtigste Ressource die Mitarbeitenden sind? Was braucht es, damit diese Leistung und Erfolg mit Spass und Leidenschaft assoziieren? Was kann eine Führungskraft dazu beitragen? Und – ganz wichtig: Welche Bedeutung hat Unternehmenskultur?
Kultur bewegt alles
An einem Unternehmen wie Alpiq lässt sich dies gut veranschaulichen: Unsere zentrale Herausforderung ist, dass unser Hauptprodukt (Strom) eine Commodity ist. Sein Preis wird unabhängig von Produktionskosten auf dem europäischen Markt durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Kilowattstunde bleibt Kilowattstunde – eine Differenzierung gelingt nicht. Kraftwerke, Technologien und Daten können von Wettbewerbern gekauft oder kopiert werden. So wird die Unternehmenskultur zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor: Sie definiert Ambition, Tempo, Qualität, Leistung. Sie entscheidet, wie gearbeitet wird. Sie bewegt Führungskräfte und Mitarbeitende.
Projekte scheitern selten an Technik oder Finanzen, vielmehr am Faktor Mensch mit seinem Ego, seinen Ängsten, seinen Vorurteilen sowie an der internen Politik, die die Kultur prägt. Als CEO kann und möchte ich hier Einfluss nehmen und meine Teams ermutigen, zu vertrauen, fordern und fördern, will sie zum Lernen und zur Leistung inspirieren. In einer kreativen Zusammenarbeit mit IMD-Professorin Susan Goldsworthy (meiner Coach im EMBA) und unserem Senior-Leadership-Team entwickelten wir einen Alpiq-Ansatz der «Secure-Base-Leadership» (SBL). Dieser gibt uns für unsere Herausforderungen eine gemeinsame Sprache und eine neue Methode. Im Zentrum stehen unsere vier Führungsprinzipien, erarbeitet und eingefordert von unseren Führungskräften: 1. Psychologische Sicherheit schaffen, 2. Mut zu Verletzlichkeit und Authentizität zeigen, 3. Gemeinsam an einem Strang ziehen, 4. Verantwortung übernehmen und fördern. In diesem Umfeld werden Gretchenfragen gestellt: Bin und will ich eine Führungskraft sein? Mag ich Menschen oder Expertise? Führe ich lieber aus oder gebe ich Richtung vor? Kann ich loslassen und Verantwortung und Kompetenz übergeben?
Authentische und effektive Führung
Die neuen Methoden in unserer Führungsarbeit sind neben Peer-Tandems unter Führungskräften unsere internen Secure-Base-Coaches. Der Übergang zu Secure-Base-Leadership ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Aus der Reihe der Führungskräfte lassen wir professionelle Coaches ausbilden. Wir unterstützen Führungskräfte und Mitarbeitende darin, Zweifel und Konflikte zu erkennen und aufzulösen. Erfolge stellen sich ein, die nachhaltig die Effizienz verbessern, weil Probleme von Person zu Person anders sind und Selbstreflexion gefördert wird.
Ein weiteres wichtiges Thema: Wie erschliessen wir das Potenzial unserer weiblichen Führungskräfte? Unsere Ambition ist ein Anteil von 35 Prozent Frauen im Topmanagement bis 2030. 2021 waren es 6 Prozent, heute sind es bereits 21. Als wesentliches Hindernis haben wir Betreuungsaufgaben, Teilzeitarbeit und geringe Visibilität von Frauen identifiziert. Deshalb werden wir unsere Beiträge an die Betreuungskosten für Frauen erhöhen – ab einem 70-Prozent-Pensum progressiv ansteigend auf bis zu 85 Prozent. Die persönliche Vorsorge und finanzielle Unabhängigkeit unserer Mitarbeitenden sind uns ebenso Motivation wie der Beitrag an unsere Renten- und Sozialsysteme. Unverzichtbar sind auch hier das Vertrauen, Fördern und Fordern der Mitarbeitenden durch Führungspersönlichkeiten.