Was wären die Konsequenzen für Schweizer Unternehmen, wenn das ausgehandelte Rahmenabkommen scheitern würde?

François Baur: Ohne ein institutionelles Rahmenabkommen ist die EU nicht gewillt, die bestehenden Marktteilnahmeabkommen der Schweiz der Rechtsentwicklung der EU anzupassen. Das würde innert kurzer Zeit zu einer Erosion der Teilnahme von Schweizer Firmen am europäischen Binnenmarkt führen. Insbesondere, wenn das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung der Konformitätsbewertungen (MRA) nicht nachgeführt wird, müssen die Schweizer Unternehmen mit zusätzlichen Kosten für die Markteinführung von Industrie- und Konsumgütern auf dem EU-Binnenmarkt rechnen.

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Können Sie uns ein Beispiel geben?

SwissMedtech, der Branchenverband der Produzenten von medizinischen Produkten geht mittlerweile davon aus, dass wegen der Blockade beim Rahmenabkommen zwei wichtige EU-Verordnungen im Bereich Medizinprodukte und Analyse nicht rechtzeitig in das MRA aufgenommen werden können. Er musste deshalb seinen Mitgliedern bereits Ende April empfehlen, sich auf eine Behandlung durch die EU als Drittstaatenunternehmen einzustellen. Durch den Verlust des barrierefreien Marktzugangs verzögert sich die Zulassung für Schweizer Medizinprodukte in der EU um durchschnittlich ein Jahr. Die Medtech-Branche mit ihren 1'400 Unternehmen und 58'500 Mitarbeitenden befürchtet dadurch eine kumulierte Umsatzeinbusse von rund einer Milliarde Franken in den nächsten drei Jahren. 
 

Das Rahmenabkommen ist also vor allem im Interesse der Schweizer Wirtschaft?

Nein, auch die EU-Unternehmen profitieren vom dessen Abschluss und damit dem Erhalt des gegenseitigen Marktzugangs. Ohne ein MRA müssten beispielsweise EU-Produkte für den Zugang zum Schweizer Markt Konformitätsprüfungen nach Schweizer Recht vornehmen. Sie würden dadurch den bisherigen Konkurrenzvorteil gegenüber vergleichbaren Produkten aus Drittstaaten einbüssen. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Schweiz als Exportmarkt für die MEM-Industrie der unmittelbaren Nachbarregionen wie Bayern oder Baden-Württemberg gleich bedeutsam ist, wie China und die USA zusammen genommen.
 

Françoise Baur economiesuisse

François Baur, Head of European Affairs bei Economiesuisse

Quelle: ZVG
Derzeit wird das Spitzenpersonal der EU neu berufen. Ändert sich deshalb an den Positionen der EU etwas zugunsten der Schweizer Anliegen?

Wir erwarten nicht, dass die nächste EU-Kommission das Rahmenabkommen in Frage stellt – es ist allerdings unklar, ob und wie es weitergehen wird. Kommissionspräsident Juncker war an der Gestaltung des europäischen Binnenmarktes und bei den Verhandlungen über die bilateralen Abkommen I und II dabei und kennt die Schweiz gut. Es ist ihm ein persönliches Anliegen, die bilateralen Beziehungen zur Schweiz auf ein stabiles Fundament zu stellen. Das nachfolgende Spitzenpersonal der EU hat diesen historischen Bezug zur Schweiz und den bilateralen Abkommen nicht mehr.

Was sind die konkreten Perspektiven?

Wir müssen damit rechnen, dass das derzeitige, aus unserer Sicht für die Schweiz gute Verhandlungsergebnis wieder in Frage gestellt werden könnte. Eine nachfolgende Kommission ist nicht an das Verhandlungsergebnis der Kommission Juncker gebunden und muss allenfalls vom neuen EU-Parlament und dem Rat ein neues Verhandlungsmandat einholen. Dann könnte es sehr wohl sein, dass die EU erneut verlangt, dass acht Abkommen und nicht wie jetzt lediglich die fünf Marktteilnahmeabkommen unter ein Rahmenabkommen fallen, inklusive das Freihandelsabkommen und der Schweizer Kohäsionsbeitrag.

Das tönt nicht sehr vielversprechend. Wie ist die derzeitige Grundbefindlichkeit der EU-Administration gegenüber der Schweiz?

Die EU-Administration hat den Eindruck, dass die Schweizer Regierung den Abschluss des institutionellen Rahmenabkommens absichtlich verzögert. Für die innenpolitischen Diskussionen und die Notwendigkeit, in der Schweiz die nötige Unterstützung bei einer Mehrheit der politischen Kräfte für das Abkommen zu sichern, hat die EU-Administration nach fünf Jahren Verhandlungen kein Verständnis und keine Geduld mehr.

Welche Auswirkungen hat die unendliche Brexit-Geschichte?

Die EU rechnet damit, dass aufgrund des voraussichtlich ungeregelten Austritts Grossbritanniens aus der EU Ende Oktober 2019 alle Kräfte gebunden sein werden und kaum mehr Kapazität besteht, sich noch mit der Schweiz zu befassen. Auch deshalb würde die EU die Verhandlungen mit der Schweiz gerne vor Ende Oktober zu einem Abschluss bringen.

Rahmenabkommen vs. EU-Beitritt

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen der dynamischen Rechtsübernahme durch ein Rahmenabkommen und einem EU-Beitritt?

Der Vorteil der dynamischen Rechtsübernahme ist, dass diese auf diejenigen Bereiche beschränkt ist, in welchen die Schweiz am europäischen Binnenmarkt teilnimmt. Konkret ist dies im Bereich des Land- und Luftverkehrs, der gegenseitigen Anerkennung von Konformitätsbewertungen (MRA), dem Handel von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und dem Personenverkehr der Fall. In allen anderen Bereichen kann die Schweiz den Rechtsrahmen völlig unabhängig von der EU festlegen.
 

Und bei einem Beitritt?

In diesem Fall müsste die Schweiz das gesamte EU-Recht übernehmen, auch in Bereichen, die nicht den Binnenmarkt regeln. Sie müsste die Kompetenz über den Aussenhandel an die EU abgeben, würde der Überwachung durch die EU-Kommission unterstehen und natürlich auch dem EUGH.
 

Vertritt die Schweizer Politik das wirtschaftliche Gewicht des Schweizer Unternehmertums in Europa bisher angemessen?

Die Schweizer Politik betont immer wieder die Bedeutung der Schweizer Wirtschaft für die EU, was wir ebenfalls tun. Allerdings haben wir die Tendenz, das wirtschaftliche Gewicht der Schweiz für die EU zu überschätzen. Insbesondere ist die EU für die Schweiz viel bedeutender, als umgekehrt. Die Frage ist tatsächlich, ob die Schweizer Politik die Interessen des Schweizer Unternehmertums gegenüber der EU im Zusammenhang mit den bilateralen Abkommen angemessen vertritt.

Und, tut sie das?

Eine Analyse der Stellungnahmen zu den Konsultationen des Bundesrates zeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Wirtschaftsverbände, Handels- und Industriekammern und Unternehmen eine Unterzeichnung des vorliegenden institutionellen Rahmenabkommens verlangt. Dieser klaren Forderung trägt die Schweizer Politik zurzeit keine Rechnung.