Handel ist Wandel», so lautet ein gefälliges Sprichwort. Und es stimmt wohl. In wenigen anderen Branchen konnte man die transformative Kraft der digitalen Revolution so stark spüren wie hier. Digitalisierung der Medienlandschaft, E-Commerce, M-Commerce, mobiles Bezahlen, Omnichannel und digitale Customer Journeys – um nur mal ein paar Buzzwords in die Luft zu werfen – haben grosse und kleine Handelsunternehmen in den letzten Jahren ganz schön auf Trab gebracht. Nicht nur in China oder den USA, sondern auch hierzulande. Und nun auch noch dieses «Metaverse».

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Der aktuelle Hype um diesen Begriff ist gross! So gross, dass sicherlich nicht nur Retailer sich die Frage stellen werden, ob im Metaverse tatsächlich Business-Potenzial steckt oder ob das Ganze wieder nur viel heisse Luft ist. Eine fixe Idee, ausgeheckt von grossen Internet-Plattformen wie Meta (nomen est omen) und ein paar Agenturen, die hier auf New Business hoffen.

Will die Kundschaft das?

Auf den ersten Blick scheint die Vision verlockend: immersive, dreidimensionale Einkaufswelten, in denen die Konsumentin und der Konsument immer shoppen kann, ohne sich aus dem Haus bewegen zu müssen. Sie oder er kann sich hier mit Freundinnen und Freunden zum Plausch treffen, ganz nebenbei auch noch ins Kino gehen und sich einen wirklich «coolen» Avatar zulegen, mit dem er oder sie dann ihre Freundinnen und Freunde neidisch macht, weil der digitale Zwilling die neuesten digitalen Gucci-Klamotten als NFT trägt. Eine Traumvorstellung für die Handelsunternehmen, die weniger Ladenfläche benötigen und stattdessen immer mehr Daten über ihre Konsumentinnen und Konsumenten sammeln können. Die Frage ist nur: Wollen das die Konsumentinnen und Konsumenten?

Der Autor

Peter Petermann, Wunderman Thompson Schweiz, Zürich.

Tatsächlich wurde bereits viel dazu geforscht, und es gibt ein paar Antworten. Zum Beispiel zur Nutzung digitaler Welten. Tatsächlich hat die Gaming-Branche, die vermutlich der grösste Treiber hinter dem Metaverse ist, bereits heute beachtliche User-Zahlen aufzuweisen. Allein das Online-Spiel «Fortnite» kommt auf mehr als 80 Millionen Nutzer im Monat und insgesamt auf mehr als 350 Millionen registrierte Nutzer weltweit. Auch hierzulande ist Gaming längst kein Nischenphänomen mehr – mehr als 45 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer tauchen mindestens einmal pro Woche in Spielwelten ein.

«Gaming Spaces» werden tatsächlich immer häufiger zu virtuellen Veranstaltungsorten. Man trifft sich dort nicht mehr nur zum Spielen, sondern um gemeinsam abzuhängen, Konzerte oder andere Events live zu erleben, manchmal sogar zum Arbeiten.

Tatsächlich können sich laut einer Umfrage von Wunderman Thompson 87 Prozent aller Netizens weltweit vorstellen, im Metaverse ins Kino zu gehen. 77 Prozent würden dort Konzerte, Musicals oder virtuelle Theaterstücke besuchen. Und doch 74 Prozent würden dort Geschäftsmeetings oder Konferenzen abhalten. Und ja: Man würde dort auch ab und zu shoppen gehen.

Retailer wie Adidas, H&M, Samsung und Forever 21 und sogar Banken wie HSBC haben daher im Metaverse bereits Filialen eröffnet. Die Modemarke Dolce & Gabbana hat im Metaverse, genauer gesagt auf der digitalen Plattform Decentraland, sogar schon eine eigene Fashion Week abgehalten. Und zwar mit Erfolg: Insgesamt mehr als 100 000 Besucherinnen und Besucher haben sich die Events im Laufe der fünf Tage dauernden Show angesehen.

Wie lange dauert der Reiz des Neuen an?

Allerdings darf man bei all diesen Statistiken eines nicht vergessen: Der Reiz des Neuen wird nicht ewig andauern. Im Moment ist der Mix aus coolen und exklusiven Marken, die sich hier tummeln, in Kombination mit einer neuen Form der Interaktion, natürlich spannend und hoch attraktiv, speziell für solche Netizens, die ohnehin immer ganz vorne dabei sein wollen. Aber mittelfristig müssen sich Retailer und Consumer Brands andere Mechanismen ausdenken, um für eine breite Masse relevant zu sein. Tatsächlich steckt hier die eigentliche Herausforderung, speziell für den Handel.

Als das Internet 1.0 Mitte der 1990er Jahre für eine breite Masse zugänglich wurde, gab es zunächst keine klaren Konzepte, was man denn dort eigentlich tun sollte. Es mangelte schlicht an relevanten Anwendungen (der Fachbegriff damals lautete «Killer Application»). Verlage, Marken und andere Unternehmen replizierten einfach das, was sie aus der analogen Welt kannten, ins Internet, und das ging einigermassen schief, denn digitale Kopien von analogen Anwendungen blieben hinter den Originalen meist weit zurück.

Genau so ist es heute wieder: Im Moment versuchen die meisten Brands und Retailer, die derzeit ins Metaverse gehen, einfach das Web 2.0 irgendwie dreidimensional nachzubauen. Man kann dann zwar mit einem Mausklick die Farbe des Pullis ändern, aber letztlich ist der Besuch in einer realen Filiale haptisch besser.

Gefragt ist Mehrwert statt nur eine Kopie

Wenn wir etwas aus den 1990ern lernen können, dann, dass wir schnellstmöglich nach Anwendungen suchen sollten, die das Metaverse besser kann als das Web 2.0 oder das physische Ladengeschäft. Die Frage ist also: Welchen Mehrwert kann eine Marke oder eine Händlerin im Metaverse schaffen?

Eine Möglichkeit könnte hier die Kombination aus Gesellschaft und Anonymität sein, die das Metaverse zulässt: Mit meinem Avatar kann ich Teil eines Events werden, ohne mich dabei mit meiner realen Persönlichkeit zeigen zu müssen. Tatsächlich ist auch die Möglichkeit, an Massenevents oder an sehr intimen Events teilzunehmen, eine spannende Anwendung, die sich anderweitig nur sehr schwer replizieren lässt.

Kluge Beobachter der Szene wagen derzeit die Hypothese, dass das Potenzial des Metaverse im Moment eher über-, langfristig aber eher unterschätzt wird. Die Frage ist, wie schnell wir in der Lage sein werden, neue, wirklich relevante Anwendungen zu entwickeln. Aber dazu sollte man natürlich nicht an der Seitenlinie sitzen bleiben, sondern mit gezielten Investitionen an ebenjenen Killer-Applikationen arbeiten.