TikTok verändert gerade in rasender Geschwindigkeit einige der bislang geltenden Regeln des Marketings, denn die Art und Weise, wie Konsumentscheidungen heute zustande kommen, unterscheidet sich erheblich von derjenigen vor zehn oder zwanzig Jahren. Das liegt vor allem daran, dass Konsumentinnen und Konsumenten heute viel mehr Möglichkeiten haben, sich über Produkte oder Dienstleistungen zu informieren, bevor sie ernsthaft über einen Kauf nachdenken.
Die Produktbewertungen bei Amazon oder Google haben zum Beispiel erheblichen Einfluss darauf, die finale Entscheidung von potenziellen Käuferinnen und Käufern in die eine oder eben die andere Richtung zu lenken. Influencer auf Instagram wiederum helfen Konsumentinnen und Konsumenten, die ein Produkt bereits kennen, enorm dabei, nun auch den Kauf des Produkts in Betracht zu ziehen. E-Commerce-Anbieter wie Amazon oder soziale Medien wie Instagram helfen Unternehmen also seit Jahren vor allem dabei, die beiden unteren Stufen des Marketing-Funnels – Consideration und Conversion – effektiv zu bedienen.
Der Autor
Mirco Hecker, Brand Partnerships Lead Switzerland, TikTok Germany GmbH, Berlin.
Effektives Brand Building
Was ist aber mit der guten, alten Aufmerksamkeit, die seit je dafür verwendet wird, Menschen – im besten Fall – durch emotionales Storytelling für Marken zu begeistern? Erinnern Sie sich noch an folgenden grandiosen TV-Spot: Eine Frau wartet sehnsüchtig auf ihren Mann. Als er endlich nach Hause kommt und vorgibt, eine Autopanne gehabt zu haben, ohrfeigt sie ihn und fragt – rhetorisch: «Mit einem Mercedes?» Der Abbinder zur ADAC-Pannenstatistik und zu den Bestnoten hierbei für die Marke Mercedes wäre kaum noch nötig gewesen. Auch die City-Light-Poster des WWF mit der Überschrift «Es wird eng», die eine sich eng zusammenkauernde Eisbärenfamilie auf einer winzigen Eisscholle inmitten eines Ozeans zeigen, benötigen keine weitere Erklärung.
Vertical-Video-Plattformen machen jeden zum potenziellen Storyteller.
Diese Beispiele sind nicht rein zufällig gewählt. Die Medien TV und Out of Home stehen seit je für effektives Brandbuilding. Studien von Less Binet und Peter Field im Auftrag des Agenturverbands IPA im Vereinigten Königreich bestätigen das schon lange. Allerdings zeichnet sich hier ein Wandel ab. Während in den Anfangsjahren des Internets Webblogs jeden Nutzer und jede Nutzerin zum potenziellen Journalisten und später die sozialen Medien, allen voran Instagram, jeden zur mehr oder weniger talentierten Fotografin machten, sorgen Vertical-Video-Plattformen gerade dafür, dass jeder User zum potenziellen Storyteller und somit Entertainer wird. Und wie vor Tausenden von Jahren die besten Geschichtenerzähler ihren Stamm ums Lagerfeuer versammeln konnten, bauen sich heute die besten Storyteller ihre Communities auf TikTok.
Nicht alles funktioniert auf TikTok
Wie bei allen Plattformen entscheiden letztlich die User darüber, welche Inhalte erfolgreich sind, also angeschaut, geliket oder geteilt werden, und welche nicht. Dabei beobachten wir Erstaunliches, denn einige Narrative, die wir aufgrund jahrzehntelanger, zielgruppenorientierter Marketingkommunikation vermutet hätten, setzen sich auf TikTok nicht unbedingt durch. Während Fitnessstudios mit jungen, dynamischen und toptrainierten Models in ihrer Werbung arbeiten, hat Erika Rischko (@erikarischko) bereits 1,7 Millionen Fitnessbegeisterte um sich versammelt. Ihre Videos werden regelmässig mehrere 100 000 Mal angeschaut, manche sogar ein paar Millionen Mal. Erika ist dynamisch und gut trainiert, aber weniger jung als die Standard-Fitnessmodels im TV oder auf den Plakaten. Erika ist 83 Jahre alt. Auch einer der mit 4,5 Millionen Followern und über 100 Millionen Likes grössten Fashion Creators Deutschlands auf TikTok, Gramps (@jaadiee), ist mittlerweile 76 Jahre alt. Er betreibt seinen Kanal zusammen mit seinem Enkel Jannik, mit dem er gerade auch eine eigene Modelinie launcht.
Bücher lesen ist dank #BookTok wieder in. TikTok ist Partner der Frankfurter Buchmesse und kürt dort die ersten TikTok Book Awards. Neu ist auch die #BookTok-Bestsellerliste, die den Einfluss ausserhalb der Plattform eindrucksvoll unter Beweis stellt. Denn Jugendliche geben wieder mehr Geld für Bücher aus. Waren es 2017 laut der GfK-Studie 7,5 Bücher, sind es jetzt 12 – einer der Haupttreiber ist #BookTok. Im Frühjahr haben TikTok-Nutzerinnen und -Nutzer darüber berichtet, dass Fruchtgummis der Marke «Hitschies Drachenzungen» am besten tiefgefroren schmecken. Der daraus entstehende Trend hat der Marke einen Platz in den Regalen sämtlicher Supermärkte geschaffen, bevor sie schnell wieder leergeräumt und ausverkauft waren, und dazu geführt, dass im Sommer dieses Jahres das «Hitschies Drachenzungen»-Wassereis als neues Produkt eingeführt wurde.
Werbetreibende müssen verstehen: Marken sind Teil der Communities.
TikTok Communities zum Thema Body Positivity werden auf einmal für die Beauty-Branche interessant, Eltern-Communities für Hersteller von Kinderwagen oder Babynahrung oder die Community von The Poolguy, einem Creator, dessen Videos über Poolreinigung mittlerweile mehr als 14 Millionen Menschen weltweit folgen, für die grossen Baumarktketten. Die Liste liesse sich beinahe unendlich weiterführen, eines haben alle diese Phänomene gemein: Sie überzeugen mit authentischem Content, der auf einem gemeinsamen Mindset und nicht mehr ausschliesslich auf soziodemografischen Faktoren beruht. Mindset vor Alter, Geschlecht und Wohnort könnte eine Lösung für modernes Marketing auf Entertainment-Plattformen wie TikTok lauten.
TikTok-User als Markenbotschafter
Potenziale für Marken entfalten sich dann, wenn sie es schaffen, mit authentischem Content Teil der für sie relevanten Communities zu werden. Das schaffen sie nicht durch klassische Sender-Empfänger-Kampagnen à la «Wenn du diese Limonade trinkst, hast du immer gute Laune» oder «Wenn du dir jenen Kredit nimmst, kannst du dir alles leisten – mein Haus, mein Auto, mein Boot».
Natürlich können solche Botschaften heute noch verfangen, wenn sie unterhaltend und charmant rübergebracht werden. Nur muss sich an das Senden dieser Botschaften ein aktives, gerne auch weiterhin charmantes und unterhaltendes Community Management anschliessen. Die Deutsche Bahn macht das gerade gut. In der Schweiz gibt es gute Beispiele dazu von der Migros oder von Coop.
Werbetreibende müssen verstehen, dass Marken ein Teil der Communities sind und dort besprochen werden. Ob sie es wollen oder nicht. Der Hashtag Rolex zum Beispiel hat aktuell 9,2 Milliarden Aufrufe auf TikTok, obwohl die Marke selbst noch keinen Content gepostet hat. Chanel hat sogar 12,2 Milliarden Aufrufe ohne ein einziges eigenes Video. TikTok-Nutzerinnen und -Nutzer beschäftigen sich also mit Marken, sind im besten Fall Markenbotschafter. Aber auch wenn sie einmal kritisch über bestimmte Marken sprechen, erreichen diese es, mit den Nutzerinnen und Nutzern in den Dialog zu treten, und zwar auf ebenso authentische Weise, wie es die User vormachen. Nur dann wird man Teil der für die Marke relevanten Communities und kann erhebliche Potenziale heben.