Diesen Frühling sass ich im Büro und realisierte: Unsere AI-Zukunft schmeckt zwar gut und erfrischend, aber auch erstaunlich unspektakulär. Das war nicht die Erkenntnis nach wochenlangen Recherchen, sondern einfach dem Genuss einer Dose Vivi Nova geschuldet. Vivi Nova? Das ist das wohl erste Getränk in Europa, das von künstlicher Intelligenz erfunden wurde. Seither stehen die Dosen in der Migros und verkünden ihre Botschaft: AI ist gekommen, um zu bleiben. AI kann texten, AI kann gestalten, und AI kann eben auch eine «100 Prozent natürliche und erfrischende Soda mit dem Saft der Haskap-Beere sowie Nahrungsfasern der Chicorée-Wurzel» erdenken. Das Etikett wiederum kommt von Midjourney, auch da hat man sich den Grafiker netterweise schon weggespart.
Der Autor
Tobias Zehnder, Co-Founder und Partner Webrepublic, Zürich.
Wandel ist unaufhaltsam
Ob wir wollen oder nicht, wir werden in den kommenden Jahren Zeugen einer gesellschaftlichen Umwälzung, wie sie zuvor mit der Industrialisierung und der Digitalisierung zu beobachten war. Und dank der noch frischen Erfahrung mit der Digitalisierung haben wir auch gelernt, etwas kritischer an die Sache zu gehen – neben neuen Chancen werden zu Recht auch die neuen Risiken breitenwirksam thematisiert.
Natürlich lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie ein ethischer Umgang mit AI in Gesellschaft und Wirtschaft aussehen soll, aber ich rate allen und jedem ganz dringend, jetzt und heute die ersten eigenen Erfahrungen zu sammeln. Denn die anderen werden nicht warten: weder Kriminelle, denen AI ganz neue Möglichkeiten zur Täuschung bietet, noch eine ganze Welle von neuen Startups, die sich vollkommen auf dieses Potenzial konzentrieren können.
Auch bestehende Unternehmen werden das Potenzial der neuen Technologie gut nutzen können, rascher als in den Anfängen der Digitalisierung. Denn seit damals wurde eine ganze Generation von Marketers ausgewechselt, und neue Köpfe sitzen an den Hebeln – eine neue Generation, die mit viel Gespür für sich wandelnde Technologien und Experimentierfreude im Marketing aufgewachsen ist. Kombiniert mit mittlerweile vorhandenen eigenen Datenpools, kompetenten Mitarbeitenden und einer modernen IT-Infrastruktur bietet sich eine Ausgangslage, die viele Unternehmen sehr positiv in die AI-Zukunft blicken lassen sollte.
Bereits heute werkeln im Hintergrund schon viele AI-Algorithmen, jedoch bis jetzt noch unauffällig. Aber mit der Ankunft der Bildgeneratoren im Sommer 2022 und dann dem Launch von ChatGPT im Winter kam das Thema AI auch in der breiten Bevölkerung an und löste eine Innovationswelle aus.
Vieles geht jetzt schneller, aber nicht vollautomatisch. Noch immer muss man wissen, welche Tools es gibt und wie man sie bedient und die gewünschten Resultate erreicht. Die Arbeit verschwindet nicht, sondern verschiebt sich – eine andere Form von Kreativität und Marketing-Handwerk ist im Umgang mit AI gefragt: gute Ideen, vernetztes Denken, smarte Strategien und ein Talent, Ideen in passende Prompts zu übersetzen, um die AI zu steuern. Der Mensch erdenkt das Konzept, das die AI dann mit Inhalt füllt. Wir werden vom Musiker zum Dirigenten. Und wir müssen sicherstellen, dass AI nicht als Konkurrenz wahrgenommen wird, sondern als ein Werkzeug, das uns hilft, unsere strategischen, technologischen und kreativen Grenzen auszuloten.
Das Beste aus zwei Welten
Die Welt des Marketings ist also im Wandel. Sie war es schon immer und wird es weiter sein. AI spielt dabei eine bedeutende Rolle – bereits schon länger im Hintergrund, jetzt aber sehr aktiv und spürbar transformativ in den kommenden Monaten und Jahren. Mit den richtigen Ansätzen und dem Einsatz von AI können wir das Beste aus beiden Welten, der menschlichen Kreativität und der technologischen Unterstützung erschaffen.
Die Welt des Marketings ist im Wandel. AI spielt dabei eine wichtige Rolle.
Werden Jobs sich verändern? Ja, klar. Wird es gewisse Jobs gar nicht mehr brauchen? Logisch. Oder ist jemand Ihrer Freunde aktuell Lichtputzer, Schwammtaucherin oder Videothekenmitarbeiter von Beruf? Das alles sind Berufe, von denen ich als Gutenachtgeschichten meinen Kindern erzähle. Berufe, die einst ganz normal waren, aber im Laufe des Strukturwandels und der Einführung neuer Technologien (Elektrizität, Plastik, Internet) obsolet wurden. Es sind keine Horrorgeschichten, sondern spannende Episoden über den Erfindergeist der Menschheit und unsere Kreativität und Anpassungsfähigkeit.
Chancen nutzen, Risiken minimieren
Wir müssen aber auch ehrlich mit uns selbst sein. Jede General-Purpose-Technologie bringt einen Umbruch mit sich, und AI ist eine solche Technologie. Mit diesen Technologien gehen Kompromisse einher: Die Vorteile sind nicht gleichmässig verteilt, und einige Vorteile kommen wohl den einen zugute, während andere vorwiegend Nachteile haben.
Die AI-Transformation zeigt in eine aufregende Zukunft, in der wir zusammen Chancen nutzen und Risiken minimieren können. Es ist eine Reise, die wir – erfrischt und gestärkt von Vivi Nova – gemeinsam antreten und die Tür zu einem neuen Zeitalter öffnen. Und was unsere eigenen Denkfähigkeiten betrifft, so sollten wir immer bedenken, dass AI uns unterstützt, aber nicht unser eigenes vernetztes Denken ersetzt.