Die Schweizerische Gesellschaft für Marketing GfM hat das Thema «Closer to the Customer» in den Fokus ihrer Aktivitäten gestellt. Warum?

Dominique von Matt (DvM): Zwei Faktoren haben das Mindset der Kundinnen und Kunden in den letzten vier Jahren drastisch verändert. Einerseits die Verunsicherung, indem das Undenkbare zur neuen Normalität geworden ist. Die Pandemie, der Krieg in Europa und, ganz nahe bei uns im Land, der Untergang einer Grossbank haben erschüttert und unsere Lebensplanung infrage gestellt. Anderseits spüren wir – kurz nachdem wir die Digitalisierung vollzogen haben –, dass mit künstlicher Intelligenz (KI) kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Wie schaffen wir es, in dieser Situation Nähe zur Kundschaft aufzubauen, nachdem diese durch die Digitalisierung bisher eher abgenommen hat?

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Wie reagieren Ihre über 600 Mitgliedsfirmen auf diese Herausforderungen?

Jean-Marc Grand (JMG): Es finden sich vielfältige Indizien dafür, dass es mit neuen Zugängen und konsequenten Ansätzen gelingen kann, wichtige Schritte auf den Kunden und die Kundin zuzugehen. So erweisen sich unter anderem wirkliche Anstrengungen im Bereich der Nachhaltigkeit, innovative und ganzheitliche Konzepte oder eine fast unvernünftige Leidenschaft für die Kundschaft als erfolgversprechende Lösungsansätze.

Ist Nähe zum Konsumenten heutzutage schwieriger geworden?

DvM: Die Pandemie hat den Begriff «Nähe» für uns plötzlich ambivalent werden lassen. Physische Nähe und Berührung waren im Corona-Kontext plötzlich mit Risiko konnotiert. Wir haben begonnen, den persönlichen Kontakt zu vermeiden. Dadurch wurde die Digitalisierung auf ein «next level» gebracht. Über drei Viertel der Pensionierten sind heute online. Und die unter Dreissigjährigen verbringen pro Woche im Durchschnitt dreissig Stunden am Handy. Bei einer Wachzeit von etwa 16 Stunden sind das fast zwei ganze Tage.

JMG: Gleichzeitig sind physische Nähe, sozialer Austausch und Geselligkeit Grundbedürfnisse. Man weiss, dass physische und psychische Nähe direkt zusammenhängen. Wenn man sich 150 Tage nicht gesehen hat, sinkt die gefühlte Nähe um 80 Prozent. Vor diesem Hintergrund wollen wir uns an unserer Trend-Tagung am 25. März 2025 mit dem Thema «Closer to the Customer» befassen. Zentral für uns ist die Frage, wie und mit welchen Mitteln wir die Nähe zu den Konsumentinnen und Konsumenten verstärken können.

Wie können sich Unternehmen besser um Kunden und Kundinnen «kümmern»?

DvM: Drei Aspekte sind aus unserer Sicht wichtig. Erstens: Die gleichen Technologien, die in den letzten Jahren die Distanz vergrössert haben, können wir nutzen, um diese zu verringern. So sind predictive AI und generative AI hervorragende Tools für die Optimierung des Kundenservice und für eine neue Nähe zu den Kundinnen und Kunden. Dass gleichzeitig das physische Erlebnis und das persönliche Gespräch nicht tot sind, hat die Offensive von Online-Shops ins physische Retailgeschäft gezeigt. Amazon und Zalando waren die Pioniere, haben Nähe signalisiert, die Marke erlebbar gemacht und so Vertrauen aufgebaut. Von der physischen Handelsseite herkommend, hat PKZ in der Schweiz gezeigt, wie man ein ausgezeichneter Omni-Channel-Händler wird.

JMG: Ein zweiter Aspekt: Der sogenannte Zero-Consumer macht die Kundennähe noch anspruchsvoller. Aktuell mutieren die Generation Z und die Millennials immer mehr zu Zero-Consumern. So bezeichnet McKinsey Kundinnen und Kunden mit null Loyalität, null Konstanz, null Geduld, aber auch null Toleranz. Sie springen von einer Marke zur nächsten, nutzen abwechselnd alle Kanäle. Die Zero-Consumer erwarten von jeder Marke perfekten Service, eine superschnelle Lieferung und höchste Nachhaltigkeitsstandards. Und sie vergleichen die Preise via Smartphone gleich im Laden. Das macht inzwischen jede und jeder Fünfte. Zu diesen Kundinnen und Kunden Nähe aufzubauen und diese zu halten, wird immer schwieriger.

Und wie lautet der dritte Aspekt?

DvM: Die sogenannten Ecosysteme. Sie schaffen keine Kundennähe und sind als plumpes Crossselling enttarnt worden. Die Digitalisierung hat auch Blüten der Kundennähe hervorgebracht, die gerade am Verblühen sind, die Ecosysteme. Eine Antwort auf eine Frage, die niemand gestellt hat. Warum soll ich auf einer starken Immobilienplattform, die ich mir wegen des breitesten Immobilien-Angebots ausgewählt habe, die Hypothek durch die dort erwähnte Bank abschliessen oder mit meinem Umzug das verlinkte Transportunternehmen beauftragen? Die Kundinnen und Kunden haben inzwischen gelernt, wie man einen Klick weiter digital optimiert. Die Digitalisierung ist vom Treiber zum Killer der Ecosysteme mutiert.

Wie relevant sind diese drei Aspekte für Marken und Unternehmen?

JMG: Aktuell sind wir alle in einer Situation, die einer zu kleinen Bettdecke gleicht. Immer wenn wir daran ziehen, reicht es an einem anderen Ende nicht ganz: Der internationale Wettbewerbsdruck steigt, der Franken ist stark, wir müssen die Kosten herunterfahren. Gleichzeitig steigen die Ansprüche in Politik und Gesellschaft an das nachhaltige Wirtschaften. Die Kosten dafür können wir nur beschränkt an die Kundinnen und Kunden überwälzen. Der Fachkräftemangel verschiebt die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und treibt die Löhne nach oben. Und jetzt kommt noch KI.