Welche Faktoren beeinflussen unser Ernährungssystem?

Es gibt sehr viele Akteure, Ressourcen und Aktivitäten, die Teil von diesem System sind. Der biologische Faktor, der vor allem für die Landwirtschaft entscheidend ist, beinhaltet Aspekte wie etwa Wasserkreisläufe oder Bodenqualität. Der wirtschaftliche Faktor umfasst den Handel und die Arbeiterinnen und Arbeiter, die in diesem System ihr Einkommen generieren. Der soziale Faktor, also die Nachfrageseite respektive der Konsum, ist verbunden mit vielen anderen Aspekten wie zum Beispiel der Tradition. Dann gibt es den politischen Einfluss mit Gesetzen und Fördermassnahmen. Nicht zuletzt wird auch die Gesundheit stark vom Ernährungssystem geprägt.

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Worin liegt die globale Herausforderung?

Primäres Ziel eines Ernährungssystems ist, die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Ohne dabei die Umwelt zu zerstören, welche die Ressourcengrundlage darstellt für die Produktion der Lebensmittel. Es geht aber auch darum, den Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, eine Lebensgrundlage mit ausreichend Einkommen zu bieten.

Wo stehen wir heute?

Sehr viele Menschen auf dieser Welt sind noch immer unterernährt. Auf der anderen Seite gibt es eine deutliche Zunahme an Fettleibigkeit. Beides ist auf ein mangelhaftes Ernährungssystem zurückzuführen. 

Und in Bezug auf die Umwelt?

Es gibt das Konzept der planetaren Belastungsgrenzen. Dieses beschreibt, wie weit wir die Ressourcen nutzen oder verschmutzen dürfen, ohne das ökologische Gleichgewicht zu zerstören. Es hat sich gezeigt, dass wir diese Grenzen mit den Auswirkungen des Ernährungssystems in fünf von neun Bereichen deutlich überschritten haben.

Welche Bereiche sind das konkret?

Der Landverbrauch, der Wasserverbrauch, das Klima (Treibhausgasemissionen), Nährstoffflüsse (vor allem der Phosphoreintrag) und Biodiversität respektive deren Verlust.

Unser aktuelles Ernährungssystem belastet den Planeten also mehr, als er verträgt. Machen wir weiter wie bisher: Wie lange dauert es bis zum Kollaps?

Es gibt Regionen, da ist der Kollaps bereits eingetreten. Wo die Böden so degradiert sind, dass nichts mehr wächst. Oder wenn die Lebensmittelpreise aufgrund von Ernteausfällen massiv steigen. Oder es zu Dürren und damit verbunden zu Hungerkatastrophen kommt. Das ist jedes Mal ein Kollaps für sich – räumlich und zeitlich begrenzt. Im Folgejahr ist die Situation wieder anders – zumindest bei Ernteausfällen und Dürren. Ich glaube nicht, dass irgendwann alles gleichzeitig zusammenbricht, dafür ist die Regenerationsfähigkeit unseres Planeten zu gross. Aber die räumlich-zeitlichen Katastrophen häufen sich, wenn wir so weitermachen, so viel ist klar.

Der Klimawandel verändert die Bedingungen in der Landwirtschaft und wirkt sich in vielen Regionen negativ auf die Erträge aus. Das heisst, wir brauchen ein resilienteres und anpassungsfähigeres Ernährungssystem. Wie erreichen wir dieses?

Das haben sich schon viele Entscheider und Entscheiderinnen gefragt. Entsprechend gibt es zahlreiche Ansätze und Strömungen, wo man das Problem sieht und wo die Lösung gefunden werden soll.

Welches sind die wichtigsten?

Ein Ansatz agiert aus der Produktionsperspektive: Es gibt nicht genügend Nahrungsmittel auf der Welt, also müssen wir die Produktion auf den bestehenden Flächen intensivieren und gleichzeitig die Umweltkosten reduzieren, weil die planetaren Grenzwerte bereits überschritten sind.

Klingt vernünftig.

Ja, aber diese Perspektive hat auch Schwächen, denn sie fokussiert auf die Menge. Hauptursache von Ernährungsunsicherheit respektive Hunger ist jedoch nicht die Menge der Lebensmittel, sondern deren Verfügbarkeit.

Das heisst?

Viele Menschen sind arm, können sich keine Nahrung leisten, oder es sind schlichtweg nicht genügend gesunde Lebensmittel vorhanden. Ein weiterer Schwachpunkt dieses Ansatzes ist die Intensivierung. Zahlreiche Studien belegen, dass mit einer Extensivierung (das Bewirtschaften von Agrarflächen mit geringeren Betriebsmitteln und Arbeitsaufwand, um die Umweltbelastung zu minimieren und nachhaltigere Anbaupraktiken zu fördern, Anm. d. Red.) die Synergien zwischen Naturschutz und Produktivität besser genutzt werden, zum Beispiel durch Biolandbau.

Was wäre ein weiterer Lösungsansatz? 

Die Suffizienzstrategie. Diese setzt beim Konsum an und nimmt die Menschen in die Pflicht, sich umweltfreundlicher zu ernähren, Foodwaste zu reduzieren und damit die Transformation anzuregen. Erreichen will man das mit Sensibilisierungskampagnen oder ökonomischen Anreizen, zum Beispiel über eine Fleischsteuer. 

Die Konsumentinnen und Konsumenten haben einen entscheidenden Einfluss auf das Ernährungssystem …

Das stimmt, aber der Ansatz fokussiert zu stark auf Wohlstandsprobleme. Nicht in allen Regionen der Welt essen die Menschen massiv zu viel Fleisch. Ganz im Gegenteil. Global gesehen geht diese Suffizienzstrategie also nicht auf. Zudem stellt sich hier die Frage der Machbarkeit und Umsetzung. Wie sehr kann man Menschen bevormunden? Eine Steuer für Fleischprodukte dürfte nicht allzu viele Fans gewinnen …

Gibt es eine Lösung, die bei der Verteilung ansetzt?

Die gibt es. Die Verteilungsstrategie sieht das Hauptproblem in den systeminhärenten Machtstrukturen und will Ungleichheiten aufbrechen. In unserem Ernährungssystem gibt es viele Konsumenten und viele Produzentinnen – dazwischen aber nur wenige Player. Diese sind sehr dominant und entscheiden unter anderem über die Preise. Die Lösung wäre die Förderung von lokalen Ernährungssystemen, von Ernährungssouveränität, von Kleinbauern sowie von fairem Handel und der Regulierung von Grosskonzernen.

Die ökologischen Auswirkungen unseres Ernährungssystems werden bei diesem Ansatz völlig ausser Acht gelassen …

Ja, diese stehen hierbei sicherlich nicht im Zentrum. Dennoch wissen wir, dass sich Wohlstand in vielen Bereichen auch positiv auf die Umwelt auswirken kann. Auf der anderen Seite ist der mit dem Wohlstand steigende Fleischkonsum allerdings ein Problem im Hinblick auf den Ressourcenverbrauch.

Was also ist der zielführendste Ansatz?

Die verschiedenen Perspektiven haben alle ihre Schwächen und Stärken, und alle haben ihre Wahrheit. Es ist wichtig, eine holistische Perspektive einzunehmen und die Strategien zu verbinden. In diesem Kontext sprechen wir vom Konzept der agrarökologischen Transformation, die eine Alternative darstellen will zum Ernährungssystem von heute. Dieses Konzept gewinnt zunehmend an Bedeutung – sowohl in der Wissenschaft, in der Praxis und in der Politik.

Weshalb?

Es anerkennt, dass das heutige Ernährungssystem falsch funktioniert. Und dass es eine umfassende Transformation auf allen Ebenen benötigt: in der landwirtschaftlichen Produktion, bei Handelsbeziehungen und im Konsum. Das umfasst die Verbesserung der Bodengesundheit, das Schliessen von Kreisläufen, das Fördern von Diversität, aber auch das Verkürzen von Lieferketten, das Steigern von Partizipation und das Teilen von Wissen.

Wie weit fortgeschritten ist die Schweiz innerhalb dieser agrarökologischen Transformation?

Ich glaube, dass wir von der Vision eines agrarökologischen Ernährungssystems noch sehr weit entfernt sind. Sicherlich gibt es auch erfolgreiche Bestrebungen, umweltschonendere Praktiken zu fördern oder schädliche Inputs zu reduzieren, doch vieles findet bislang nur in der Nische statt.  

Wo hakt es, bezogen auf die Landwirtschaft?

Ich glaube, die Landwirtschaft müsste innovationsfreundlicher werden. Jedoch gibt es verschiedene gesetzliche, administrative, wirtschaftliche, aber natürlich auch gesellschaftliche Hürden, etwas Neues zu wagen. 

Ganz ideenlos sind wir nun auch nicht …

Das stimmt, und solche Beispiele machen Mut. Da die Förderung in diesem Bereich jedoch gering ist, hängt alles von der eigenen Initiative ab. So gibt es durchaus innovative Landwirtschaftsbetriebe, die zum Teil sehr erfolgreich in der Direktvermarktung sind, zum Beispiel mit einem Gemüseabo oder auch mit gewissen Hofläden. Würde so was noch mit Tourismus und Gastronomie verknüpft, könnten ganz spezielle Nischenprodukte aufgebaut werden.

Zur Person

Isabel Jaisli ist Leiterin des Forschungsbereichs Nachhaltigkeitstransformation und Ernährungssysteme, Dozentin für nachhaltige Wertschöpfungsketten und Foodsysteme sowie Leiterin der Forschungsgruppe Geography of Food am Institut Umwelt und Natürliche Ressourcen an der ZHAW in Wädenswil. Neben ihrer Tätigkeit an der ZHAW ist Isabel Jaisli Mitglied im Stiftungsratsausschuss der Swissaid sowie Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung Green Ethiopia.

Jaisli ist diplomierte Umweltbiologin und verfügt über einen MSc in tropischen und internationalen Agrarwissenschaften der Georg-August-Universität in Göttingen. Darüber hinaus hat sie Zusatzausbildungen in Ökonomie absolviert, unter anderem einen MAS in Management, Technology and Economics an der ETH Zürich.

Wie nachhaltig ist die Schweizer Landwirtschaft im internationalen Vergleich?

Leider nimmt sie nicht die führende Rolle ein, die sie aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten einnehmen könnte.

Als Kleinststaat ist der Einfluss der Schweiz auf globale Lebensmittelsysteme nicht unbedeutend, aber eher marginal …

Das stimmt so nicht. Viele Schweizer Konzerne prägen das globale Ernährungssystem mit. Wir könnten mehr Verantwortungsbewusstsein zeigen, etwa im Kaffee- oder Kakaoanbau, wo die Schweiz ein sehr wichtiger Abnehmer ist und durchaus mehr Fairness in die Lieferketten bringen könnte.

Apropos Fairness: Woran erkennt man vertrauenswürdige Nachhaltigkeitslabels?

Es gibt Labels, die decken nur einen bestimmten Nachhaltigkeitsaspekt ab, etwa Umweltauswirkungen. Als Konsumentin hat man aber das Gefühl, dass das Produkt auch sozial gerecht produziert wurde. Auf der Plattform Labelinfo.ch, bei deren Neuentwicklung meine Forschungsgruppe mitgewirkt hat, lässt sich nachvollziehen, welche Dimensionen ein Label wirklich abdeckt und wie gut dieses performt. Die Kategorien Textilien und Food sind kürzlich aufgeschaltet worden.

Sie haben in Ihrer Karriere bereits in zahlreichen Projekten mitgewirkt. Welches ist das aktuellste?

Das neueste Projekt startet 2025 und befasst sich mit der Proteinwende in der Schweiz, also mit dem Übergang von einem übermässigen Konsum tierischer Proteine hin zu pflanzlichen Alternativen – im Konsum und in der Landwirtschaft. Wir arbeiten hier mit dem Fibl (Forschungsinstitut für biologischen Landbau) und dem Aroscope zusammen. In diesem Projekt beleuchten wir Zukunftsszenarien innerhalb der gesamten Wertschöpfungskette, von der landwirtschaftlichen Produktion bis zum Konsum. Wie ist diese Proteinwende möglich? Was hätte das für Auswirkungen auf die Umwelt, die Landwirtschaft und die Ernährung? Ich denke, dass das viele Grundlagen dafür schaffen wird, in die Zukunft zu denken.