Viele Führungspersönlichkeiten spielen in vorgerückten Phasen ihrer Karriere mit dem Gedanken, nicht mehr an vorderster Front Transformationsprozesse zu führen, sondern eigene Erfahrungen weiterzugeben und die über die lange Karriere erfahrenen Prozesskompetenzen für andere nutzbar zu machen. Dies kann in der Rolle als coachende Führungskraft oder als professioneller Coach geschehen.
Seit Jahren steigt der Coachingbedarf im Sinne der kompetent durchgeführten Reflexion im Arbeitskontext. Heutige Führungskräfte müssen Komplexität bewältigen, wofür sich Unterstützung in Form von Coaching als bewährtes Instrument erwiesen hat. Die immer volatilere, komplexere und unsichere «VUCA»-Welt verlangt neue Führungskonzepte. Insbesondere jüngere Arbeitnehmende, die in einer sozial vernetzten Welt aufgewachsen sind, verlangen ein stärkeres Eingehen auf sie, ihre Individualität und Bedürfnisse, auch in Führungsverhältnissen. Und es gibt auch spannende Selbstverstärkungseffekte: Je mehr Führungskräfte Coachingleistungen in Anspruch nehmen, desto akzeptierter und damit mehr nachgefragt werden diese.
Die Autoren
Thomas Bieger, Professor für Betriebswirtschaftslehre und ehemaliger Rektor der Universität St. Gallen;
Florian Schulz, Dozent für Organisationspsychologie mit Schwerpunkt Leadership und Executive Coaching sowie Leiter der Psychologischen Beratungsstelle, Universität St. Gallen.
Beide zusammen gründeten das Zertifikatsprogramm in Leadership and Executive Coaching HSG.
Inzwischen ist Coaching auch Gegenstand universitärer Auseinandersetzung geworden. So wird Coaching etwa in der Tradition des St. Galler Management-Modells als zeitgenössische Form der reflexiven Gestaltungspraxis verstanden. Es geht darum, möglichst gute Lösungsmöglichkeiten für essenzielle Herausforderungen zu finden, die beim Führen von Einzelpersonen, Teams und Organisationen sowie in der Kommunikation mit Stakeholdern entstehen. Dies wird erreicht, indem man eine Vogelperspektive einnimmt, mit der die Gesamtsituation besser verstanden wird und damit auch nachhaltigere Entscheidungen ermöglicht werden.
Ein Coach muss beim Coachee Reflexionsprozesse ermöglichen.
Der an der Universität St. Gallen entwickelte systemische Ansatz für Leadership und Executive Coaching umfasst deshalb sozial kommunikative Prozesse und Konstellationen zwischen Coach, gecoachter Führungskraft und ihrer Organisation. Aktives Zuhören und spezielle Fragetechniken ermöglichen in zirkulären Prozessen der sukzessiven Erkundung des Problems, der Erweiterung der Möglichkeiten und Erprobung von Handlungen beim Coachee Reflexion und Entscheidungsfähigkeit.
Wenn Stärken zu Schwächen werden
Zwar sind die Fach-, Führungs- und Handlungskompetenzen des Coachs weiterhin hilfreich und für Problemverständnis und Glaubwürdigkeit notwendig. Die klassischen Erfolgsfaktoren des Managens können jedoch im Coachingprozess zu Stolpersteinen werden. Aufgrund von Beobachtungen und theoretischen Analysen sind dies vor allem:
- Zielgerichtetes Durchsetzungsvermögen. Während bei Führungskräften der Erfolg oft von ihrem zielgerichteten Durchsetzungsvermögen, Beharrlichkeit und Konsistenz abhängt, ist bei einem Coaching vor allem offene Reflexivität gefragt. Der Coachee soll neue Perspektiven und Wege erkennen, das Problem neu eingrenzen, neue Handlungsmöglichkeiten identifizieren. Der Coach darf, auch wenn er als erfolgreiche Führungskraft selbst schon mehrere Male ein scheinbar ähnliches Managementproblem erfolgreich bewältigt hat, nicht einfach Ratschläge an den Coachee geben.
- Eingrenzen des Problems und damit Reduktion der Komplexität. Erfolgreiche Führungskräfte meinen oft instinktiv zu wissen, welche Problemaspekte jetzt keine Rolle spielen, und fokussieren auf den vermeintlichen Kern des Problems. Als Coach müssen Sie dem Coachee durch offene, neue Aspekte eröffnende Fragen, neue Problemperspektiven, Zusammenhänge und Sichtweisen erschliessen.
- Einfache, oft lineare Bilder von Transformation. Das sichtbare «neue Ufer» reicht oft, um die Geführten darauf hinzubewegen. Wenn ein Coachee aber mit komplexen und umfassenden Veränderungsprozessen konfrontiert ist, reicht es nicht, möglichst rasch, effektiv und effizient von Zustand A zu Zustand B zu kommen. Der Coach muss dann die Fähigkeit zu einem offenen, flexiblen Verständnis von Veränderung beim Coachee wecken. Dabei geht es um die Frage, welche Verständnisse, Perspektiven und Ressourcen für Veränderungsfähigkeit beim Coachee in seinem organisationalen Kontext notwendig sind.
- Fach- und Führungswissen. Als Führungskraft ist es von Vorteil, wenn man Sicherheit, Orientierung und Klarheit auf der Basis von Fachkompetenz und Faktenwissen vermittelt. Ein Coach muss hingegen durch die richtige Fragetechnik beim Coachee Reflexionsprozesse ermöglichen. Es braucht einen Wandel vom Wissenden zum Erkundenden. Dem Coachee sollen nicht Lösungen vermittelt werden, sondern er soll im Erkenntnisprozess begleitet werden.
Perspektivenwechsel und Gesprächsführungskompetenzen sind inzwischen Bestandteil eines modernen Führungsanspruchs. Aber der Wechsel vom Managen zum Coachen ist nicht nur eine Frage von Techniken, sondern vor allem auch der Haltung. Es braucht Geduld und Interesse und die Fähigkeit, Dinge im richtigen Moment zu fokussieren und damit zu verlangsamen. Damit verbunden ist die Einstellung, dass die beste Lösung jene ist, die das Gegenüber erarbeitet hat. In diesem Sinne tut ein guter Coach, sowohl in der Rolle als Führungskraft als auch als professioneller Coach, alles dafür, dass der Coachee die Lorbeeren erntet und aus dem erlebten Erfolg neue Ressourcen schöpft.