Leonardo DiCaprio ist im richtigen Film. Der Star von «Titanic» und «The Wolf of Wall Street» stieg 2017 bei Beyond Meat als Risikokapitalgeber ein. Nun ist der Hersteller von pflanzlichen Burgern und Würstchen seit knapp zwei Monaten in New York kotiert und nach einer Versechsfachung des Kurses 10 Milliarden Dollar wert.
Vegan ist in, Fake-Fleisch-Produkte, die tier- und klimafreundlichen Fleischgenuss versprechen, boomen.
Garden Gourmet und Sweat Earth Foods, die beiden Veggie-Linien von Nestlé, wachsen zweistellig. Impossible Foods, auch ein Hersteller pflanzlicher Fleischalternativen, spannt mit Burger King zusammen. Zudem hat das amerikanische Startup gerade 400 Millionen Dollar am Kapitalmarkt aufgenommen, um weiterzuwachsen.
Fleischkonzern plant Veggie-Nuggets
Selbst die ganz grossen Tiere der Fleischindustrie denken um: Tyson Foods, ein früher Investor bei Beyond Meat, will zum Start der Grillsaison selbst einen Burger in die Supermärkte bringen, der zum Teil aus pflanzlichen Eiweissen besteht und deshalb nachhaltiger ist als der herkömmliche Rindfleischburger.
Zudem werkelt der Fleischkonzern aus dem US-Bundesstaat Arkansas, der jede Woche 133'000 Rinder, 408 000 Schweine und 37 Millionen Hühner schlachtet und zu Fleischprodukten verarbeitet, an vegetarischen Nuggets.
Raus aus der Nische der Veganer
Noch hält das grosse Schlachten an. Mehr als 70 Milliarden Tiere wurden 2018 weltweit getötet und zu Fleischprodukten verarbeitet. Die meisten davon waren Hühner. Auch die Zahl der geschlachteten Schweine und Enten geht Jahr für Jahr in die Milliarden.
Bleiben die Ernährungsgewohnheiten gleich und steigt die Weltbevölkerung wie erwartet, werden ab 2050 jährlich 100 Milliarden Tiere für den Fleischkonsum der Menschen ihr Leben lassen müssen.
Doch die Zeichen stehen auf Veränderung. «Garden Gourmet ist für alle, die Alternativen zum Fleisch suchen», sagt ein Nestlé-Sprecher. Und bei McDonald’s Deutschland, der den Incredible Burger von Nestlé als «Big Vegan» anbietet, heisst es: «Der vegane Burger soll den Geschmack aller McDonald’s-Liebhaber treffen.» Und: «Wir greifen damit gezielt den weitreichenden Trend auf, gelegentlich auf tierische Produkte zu verzichten.»
Damit ist klar: Die neuen Produkte richten sich nicht nur an die immer noch kleine Minderheit von Veganern und Vegetariern. Die Hersteller von Erbsenhuhn und pflanzlichen Würstchen wollen mehr. Sie haben die viel grössere Gruppe der Flexitarier im Auge; also jene, die zumindest gelegentlich auf Fleisch von Tieren verzichten wollen.
«Der Mensch mag gebratenes Blut. Das steckt tief ins uns drin.»
Urs Niggli, FibL
Raus aus der Nische, heisst die Devise. Das zeigt sich beim zweiten grossen Fleischersatztrend, dem Laborfleisch. Dutzende von Startups tüfteln weltweit an Verfahren, um Fleisch zu «züchten», also aus einigen wenigen tierischen Muskelzellen künstlich Fleisch herzustellen. Ganz vorne mit dabei beim kultivierten Fleisch: die Schweizer Grossverteiler Migros und – über Tochter Bell – Coop.
Bell beteiligte sich Mitte 2018 an der niederländischen Mosa Meat. Das Startup hat ein Verfahren entwickelt, um Rindshack im Labor herzustellen. Coop-Konkurrent Migros kaufte sich diesen Mai bei Aleph Farms ein; das israelische Startup kann – zumindest im Labor – aus einer Probe jeglicher Muskelzellen das entsprechende Fleisch herstellen.
Der Clou: Kultiviertes Fleisch ist kein Fleischersatz, sondern richtiges Fleisch – nur dass für dessen Herstellung kein Tier getötet werden muss. Es trägt der Tatsache Rechnung, dass die meisten Menschen nun einmal gerne Fleisch essen. «Der Mensch mag gebratenes Blut», sagt Urs Niggli, Direktor der Forschungsanstalt für biologischen Landbau (Fibl) und einer der renommiertesten Biowissenschafter der Welt. «Das steckt tief ins uns drin und stammt vermutlich noch von unserer Zeit als Sammler und Jäger her.»
Marco Tschanz, Finanzchef von Bell und Verwaltungsratsmitglied von Mosa Meat, meint: «Das Angebot richtet sich an Konsumenten, die ab und zu bewusst auf Fleisch verzichten möchten, ohne dabei bei Geschmack und Konsistenz Abstriche machen zu müssen.»
Die Würde der Tiere
Wichtigster Treiber der Bewegung ist das Tierwohl. Immer mehr Menschen lehnen es ab, dass Tiere, die – so weiss man heute – wie Menschen Angst, Schmerz, Trauer und Freude empfinden, getötet werden müssen, nur damit wir in ein Stück Steak beissen können.
Die Wissenschaft ist sich einig: Ohne Abstriche beim Fleischkonsum wird es nicht gelingen, eine Klimakatastrophe zu vermeiden.
«Der Gedanke, dass auch Tiere eine Würde haben, gewinnt an Boden», sagt Niggli von der Fibl. Vor allem jüngere Konsumenten verlangten nach Lebensmitteln, für die keine Tiere getötet werden müssten, sagt Eliana Zamprogna, Chief Technology Officer von M-Industrie, den Industriebetrieben der Migros.
Dazu kommt die Sorge ums Klima, die für einen Erfolg der Fleischersatzprodukte spricht. Der Fleischkonsum gehört zu den grössten Klimakillern; die Fleischindustrie ist für einen Viertel der Klimagase verantwortlich. Die Wissenschaft ist sich einig: Ohne Abstriche beim Fleischkonsum wird es nicht gelingen, die Erderwärmung unter 2 Grad zu halten und eine Klimakatastrophe zu vermeiden.
Besonders verheerend ist das Methangas, das Rinder – ihre Zahl beläuft sich auf eine Milliarde weltweit – ausstossen. Zudem werden Regenwälder gerodet, um Mais und Soja als Tierfutter anzubauen. Die Oxford Martin School kommt zum Schluss, dass eine weniger fleischhaltige Ernährung die Klimabelastung bis ins Jahr 2050 im Vergleich zu einem «Weiter wie bisher» um bis zu 70 Prozent reduzieren und 1,5 Billiarden Dollar an Klimaschäden vermeiden könnte.
Klima, Tierwohl und Gesundheit
Gleichzeitig warnen Experten wie der renommierte Schweizer Biolandbau-Pionier Urs Niggli davor, im Veganismus die Lösung des Klimaproblems zu sehen. Der Trend zu pflanzlichen Proteinen sei gut, solange dafür Ackerflächen verwendet würden, auf denen heute Tierfutter angebaut wird. Wenn dafür aber Weiden gepflügt würden, so sei das «etwas vom Schlimmsten fürs Klima überhaupt».
Doch auch der Trend zur gesunden Ernährung spielt den Machern von veganen Produkten in die Hände. Denn zu viel Fleisch ist ungesund.
Wer täglich Fleisch isst, hat ein erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden oder an Diabetes oder Krebs zu erkranken. Die Forscher der Oxford Martin School sagen: Würde Rindfleisch durch andere Proteinquellen ersetzt, so liesse sich die Zahl der ernährungsbedingten Todesfälle um 2,4 Prozent weltweit senken; in den Industrieländern wären es gar bis zu 5 Prozent.
Wie hätten Sies denn gerne? Rare, medium oder well done? Bei Fleisch ist uns die Frage geläufig. Neu ist, dass sie sich bei pflanzlichen Proteinprodukten wie den Burgern von Beyond Meat, Nestlé und Co. stellt.
Der Volksmund spricht von «Fake-Fleisch», doch zutreffender ist wohl der Begriff «pflanzenbasiert» oder «plant-based», denn als Basis dienen pflanzliche Proteine aus Soja, Weizen und Hülsenfrüchten. Der Clou der veganen Fleischalternativen: Sie kommen dem Fleisch-Feeling sehr nahe. Pat Brown, Biochemiker und Gründer von Impossible Foods, arbeitet dazu mit Leghämoglobin, einem pflanzlichen Protein, das in den Wurzelknöllchen von Hülsenfrüchten vorkommt und ähnliche Eigenschaften aufweist wie das Hämoglobin im tierischen oder menschlichen Blut. Es bewirkt, dass der vegane Burger in der Pfanne brutzelt und dass er seine rote Farbe verliert, je länger er gebraten wird. Deshalb spricht man hier von unterschiedlichen Garstufen. Zudem sorgt das Hämoglobin dafür, dass man beim Reinbeissen – zumindest annähernd – das Gefühl hat, in ein Stück Fleisch zu beissen.
Die Verwendung von Leghämoglobin scheiterte lange daran, dass es aufwendig extrahiert werden musste, sodass eine kommerzielle Nutzung nicht infrage kam. Der Durchbruch kam, als es gelang, Hefepilze genetisch so zu modifizieren, dass sie in der Lage sind, Leghämoglobin zu produzieren.
Mit «natürlich» haben die veganen Burger von Impossible Foods deshalb wenig zu tun. Es steckt viel Tech drin. Der Burger von Impossible Foods, enthält zudem Weizenprotein, Kokosnussöl, Kartoffeleiweiss, Hefeextrakte und mehrere Vitamine.
Tierwohl, Klima, gesunde Ernährung: Beim Fleisch kommen die grossen Themen unserer Zeit zusammen. «Das ist kein Hype», sagt Urs Niggli vom Fibl. «Da verändert sich wirklich etwas.» Die Unternehmensberater von AT Kearney kommen zum Schluss: Die neuen Produkte und Technologien haben das Potenzial, die1000-Milliarden-Geschäfte mit dem Schlachtfleisch zu disrumpieren.
Spannend dabei: Die AT-Kearney-Berater sehen langfristig mehr Potenzial im kultivierten Fleisch als in den gegenwärtig so hypen veganen Fleischalternativen. Ihre Prognose für den Fleischmarkt vom Jahr 2040: 40 Prozent Schlachtfleisch, 35 Prozent kultiviertes Fleisch, 25 Prozent vegane Fleischersatzprodukte – und das alles bei einem Marktvolumen von dannzumal 1800 Milliarden Dollar weltweit. Das Fazit von AT Kearney: «Kultiviertes Fleisch wird auf lange Sicht das Rennen machen.»
Blutjung sind die Verfahren, Fleisch aus tierischen Zellen herzustellen. So jung, dass sich noch nicht einmal eine Terminologie durchgesetzt hat. Im Angebot sind unter anderem Laborfleisch, Kunstfleisch, Zuchtfleisch, Clean Meat, Slaughter-free, In-vitro-Fleisch, kultiviertes Fleisch.
Anfänglich brauchte es für die Herstellung des neuen Fleisches embryonale Stammzellen, doch das war aus ethischen Gründen unbefriedigend: Man musste zwar kein Tier mehr töten, um Fleisch herstellen zu können, dafür potenzielles Leben vernichten. Inzwischen aber ist die Wissenschaft so weit, dass sie Fleisch aus Muskelzellen herstellen kann. Das Verfahren kommt aus der Medizin, wo schon länger Gewebe in der Petrischale gezüchtet wird; etwa für künstliche Herzklappen oder für Hauttransplantationen bei Verbrennungen.
Und so funktioniert es: Man entnimmt einer Kuh, einem Schwein oder einem Huhn wie bei einer Biopsie in der Medizin ein paar Zellen – allenfalls sogar mit einer leichten Betäubung, damit das Tier nicht leidet. Dann werden die Zellen in einer Nährlösung dazu gebracht, sich exponentiell zu vermehren. Dazu werden die Mechanismen in Gang gesetzt, die dazu führen, dass sich Gewebe selber repariert.
Das Fleisch der Zukunft wird in Bioreaktoren hergestellt, die wie die Edeltanks einer Brauerei aussehen dürften. Schätzungen gehen davon, dass sich der weltweite Fleischbedarf so mit ein paar zehntausend Kühen decken liesse – und selbst diese müssten nicht geschlachtet werden. Zum Vergleich: 2018 wurden weltweit 300 Millionen Rinder getötet und verarbeitet.
Fleischersatz ist mehr als ein Hype
Auch bei Nestlé ist man davon überzeugt, dass es sich bei den alternativen Proteinen nicht nur um einen Hype handelt, von dem schon bald keiner mehr sprechen wird. «Wir glauben, dass dieser Trend nachhaltig ist. Immer mehr Menschen erkennen, dass es für sie und für den Planeten besser ist, weniger Fleisch zu essen», sagt ein Nestlé-Sprecher.
Doch ein Rest von Unsicherheit bleibt, insbesondere beim kultivierten Fleisch. Das Terrain ist neu, keiner weiss, wie die Konsumenten reagieren werden. Eingefleischte Veganer dürften sich schwertun. «Wenn Veganismus heisst, keine tierischen Produkte zu essen, dann ist kultiviertes Fleisch keine Alternative», sagt Marco Tschanz von Bell.
Ähnlich tönt es bei der Migros: «Ich habe das Kunstfleisch probiert», sagt M-Industry-Technologiechefin Eliana Zamprogna, «es schmeckt ausgezeichnet.» Geschmack und Sensorik seien nebst der Umweltverträglichkeit wichtige Faktoren. Trotzdem: «Wie die Konsumenten wirklich reagieren, wissen wir erst, wenn wir ein Produkt im Verkauf haben.»
Auch in Indien und China will man Fleischersatz
Dazu kommt, zumindest beim Kunstfleisch, der Preis. Noch kostetet das Pfund Fleisch aus dem Labor Hunderte, wenn nicht Tausende von Franken. «Ob sich der Prozess so skalieren lässt, dass sich das Fleisch industriell herstellen lässt, muss sich noch weisen», sagt Zamprogna. Klar sei: Qualität und Preis müssten mit dem herkömmlichen Fleisch vergleichbar sein.
Zuversichtlich sind die Berater von AT Kearney: Sie zitieren Umfragen, wonach die meisten europäischen Konsumenten bereit seien, kultiviertes Fleisch zu probieren, und die Hälfte der Befragten angebe, solches regelmässig kaufen zu wollen. Zudem widersprechen die Berater der Vermutung, dass es sich beim Trend weg vom Schlachtfleisch ohnehin nur um ein europäisches und allenfalls noch amerikanisches Phänomen handle.
Im Gegenteil: In Indien, wo sich 400 Millionen Menschen vegetarisch ernähren, und in China sei das Interesse an Fleischalternativen noch grösser.
Am meisten aber werden Mose Meat und Co. daran zu beissen haben, dass sich menschliche Gewohnheiten nicht von heute auf morgen ändern lassen. Sicher ist deshalb: Bis es so weit ist, werden wohl noch eine ganze Weile einige Hunderte von Milliarden Tiere ihre Leben lassen, damit wir nicht auf das Schnitzel im Teller und die Bratwurst auf dem Grill verzichten müssen.