Corporate Switzerland schweigt. Fast zwei Wochen nach dem Überfall der Hamas auf den Süden Israels hat nur einer der drei grössten Konzerne der Schweiz öffentlich klare Worte gefunden. Man verurteile den Terror, heisst es seit Freitag in einer Stellungnahme auf der Webseite des Basler Pharmakonzerns Novartis, und man sei in Gedanken bei allen, die von den tragischen Ereignissen betroffen seien, sowie bei ihren Familien und ihren Liebsten. Roche hat sich nur intern gegenüber seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen geäussert, Nestlé beantwortet zurzeit keine Fragen zum Thema.

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Das Schweigen der Topkonzerne ist ein Fehler. Wenn Terroristen Hunderte junge Menschen auf einer Tech-Party massakrieren, wenn sie junge Frauen vergewaltigen und Handgranaten in Shelters werfen und wenn sie Babys, Mütter und Väter als Geiseln verschleppen und misshandeln, dann gibt es keinen Raum für Zweideutigkeiten mehr – dann gibt es «keine andere Seite» mehr, wie der amerikanische Aussenminister Anthony Blinken sagte. Doch genau der Eindruck entsteht, wenn grosse, mächtige Unternehmen darauf verzichten, antisemitische Gräueltaten wie die der Hamas vom 7. Oktober öffentlich zu verurteilen.

Der 7. Oktober ist ein Watershed-Moment

Der Erfolg von Grosskonzernen wie Roche, Novartis und Nestlé basiert auf einer gesellschaftlichen Ordnung, die garantiert, dass alle angstfrei und in Freiheit leben können, dass niemand aufgrund der Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe diskriminiert wird und dass alle ihre Talente entwickeln und ihre Lebensentwürfe realisieren können. 

Die vergangenen Tage haben einmal mehr gezeigt, wie sehr diese Ordnung inzwischen durch antisemitische Gesinnungen und Taten unter Druck ist, wie dünn die Schicht der Zivilisation geworden ist. Der 7. Oktober ist ein Watershed-Moment. Dies gilt nicht nur für Israel, das einmal mehr die bittere Erfahrung macht, dass es sich keine Schwächen erlauben darf, und das nun angesichts der doppelten Bedrohung aus dem Süden durch die Hamas und aus dem Libanon durch die von Iran unterstützte Hisbollah einmal mehr um seine Existenz kämpft. 

Das gilt auch für uns hier in den westlichen Gesellschaften. Die Attacken auf Israel haben gezeigt, dass wir das Versprechen, dass Juden und Jüdinnen bei uns leben können, ohne schikaniert und bedroht zu werden, längst nicht mehr einhalten können. Im Berliner Stadtkreis Neukölln skandierten noch am Abend der Anschläge Hamas-Anhänger und -Anhängerinnen in Sprechchören «Tod den Juden» und feierten das Massaker, indem sie Süssigkeiten an Passantinnen und Passanten verteilten. Zum von Hamas weltweit ausgerufenen «Tag des Hasses» wurden in Berlin Wohnhäuser von Juden und Jüdinnen wie damals von den Nationalsozialisten mit Davidsternen gebrandmarkt. 

Auch bei uns steht die liberale Ordnung unter Druck

Doch man muss gar nicht so weit gehen. Auch in der Schweiz scheuen sich viele Juden und Jüdinnen aus Angst vor Pöbeleien, ihren Glauben zu zeigen. Auch bei uns gibt es antisemitische Schmierereien, wird antisemitische Gewalt im Nahen Osten routiniert und vollkommen empathielos zum «antikolonialen Befreiungskampf» umgedeutet. Auch bei uns taten sich viele schwer, klare Worte zu finden. Die Regierungen von Basel-Stadt und der Stadt Zürich brauchten mehrere Tage, um ihre Verachtung für das Geschehene auszudrücken und sich mit Israel zu solidarisieren. Als die Israel-Fahne am Basler Rathaus dann endlich wehte, wurden Fassade und Boden mit antisemitischen Slogans verschmiert.

Doch auch das gibt es: Millionen Menschen rund um die Welt haben in den vergangenen Tagen klare Worte gegen den Terror gefunden, auch wenn sie sich damit in unangenehme oder sogar gefährliche Situationen brachten. Schade, dass sich die Schweizer Grosskonzerne ihnen nicht oder nur zögerlich anschlossen. Denn eines ist klar: Unternehmerischer Erfolg, Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und der Schutz von Minderheiten sind kein Wunschkonzert. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Und klar ist auch: Wenn es um die Verteidigung unserer liberalen Gesellschaften geht, um all die Freiheiten, die sie in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen haben und die uns lieb und teuer sind, dann braucht es alle. Auch die Stimme von Unternehmen wie Roche und Nestlé.