Freitagmorgen, 8.15 Uhr, Ständeratssaal. Ruedi Noser will den obligatorischen Hundekurs abschaffen. Es ist das letzte Traktandum in dieser Sommersession – dann heisst es für die Politiker: ab in die Sommerferien. Der FDP-Ständerat versucht, mit etwas Humor – «den Letzten beissen die Hunde» – seine tagungsmüden Kollegen bei Laune zu halten. Und er gewinnt.
Auf den ersten Blick ist das nur ein weiteres Beispiel für die bei Politikern so beliebten tierischen Vorstösse. Doch kommt Noser damit auch im Nationalrat durch, dann wäre das eine kleine Revolution: Denn dann würde das Parlament für einmal keine neue Vorschrift einführen, sondern im Gegenteil: ein Gesetz streichen – und eines notabene, das es erst vor ein paar Jahren geschaffen hat.
Vorschriften werden mehr
Das Klagen über die «Bürokraten in Bern» gehört seit jeher zum guten Ton in den Chefetagen der Unternehmen. Doch in jüngster Zeit hat sich die Lage merklich zugespitzt. Henrique Schneider, stellvertretender Direktor des Gewerbeverbands (SGV), verortet den Start «der unguten Entwicklung» Mitte der 2000er Jahre. «Der Spielraum wird enger, die Situation immer ungemütlicher», sagt auch Economiesuisse-Chefökonom Rudolf Minsch.
Die Zunahme an Vorschriften lässt sich auch numerisch untermauern: etwa mit dem Anstieg beim Seitenumfang der Rechtssammlung des Bundes oder bei der Anzahl parlamentarischer Vorstösse. Diese Zahlen sagen zwar nichts über die Qualität der Gesetze und Vorstösse aus, sie sind aber ein Indiz für einen Trend.
Zehn Milliarden Franken pro Jahr
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat zwölf für die Firmen administrativ aufwendige Bereiche untersucht und beziffert die Kosten für diese auf zehn Milliarden Franken pro Jahr. Natürlich lassen sich diese Ausgaben nicht auf null herunterdrücken, aber deutlich senken, um etliche hundert Millionen, wie Seco-Chefökonom Eric Scheidegger betont. «Und das, ohne den Nutzen dieser Regulierungen in Frage zu stellen.» So weit die Theorie, in der Praxis ist alles etwas komplizierter. Auch deshalb stimmt Nosers Ausflug in die Hundewelt viele hoffnungsfroh.
Ursachen für die Zunahme an Regulierung gibt es viele: Ein wichtiger Treiber ist die Globalisierung, welche die Schweiz zwingt, internationale Regeln zu übernehmen. Auch ist die Welt komplexer geworden, und es bedarf komplexerer Lösungen.
Vieles ist hausgemacht
Vieles ist aber auch hausgemacht. Das Aufgabengebiet der öffentlichen Hand wird ständig ausgebaut, weil der Markt versagt, aber auch, weil ein Skandal oder ein Unglück unter medialem Trommelfeuer die Politiker zum Handeln animiert.
So geschehen 2005, als ein kleiner Junge von einem Pitbull zu Tode gebissen wurde. Ein Aufschrei der Empörung ging durch die Schweiz, der «Blick» forderte mit einer Petition ein Kampfhundeverbot und sammelte innert kürzester Zeit 175 000 Unterschriften, darunter auch jene von 147 Parlamentariern und vom damaligen Nationalrat Noser. Eine Lösung musste her: Der obligatorische Hundekurs war geboren.
Spezialisten statt Generalisten
Vorfall, Empörung, Gesetz, Verordnung. Panne, Qualitätssicherung, Gesetz, Verordnung. Innovation, Ruf nach gleich langen Spiessen, Gesetz, Verordnung. Die Maschine läuft wie geschmiert. In allen Bereichen. Für sich genommen verspricht jede neue Regulierung einen Nutzen, verschafft Sicherheit. In ihrer Masse hingegen droht die Flut an Vorschriften die Unternehmen nach und nach zu erdrücken.
«In der Verwaltung sitzen heute viele Spezialisten, welche spezifische Probleme möglichst perfekt beheben wollen», sagt Rudolf Minsch. «Dabei geht der Überblick über das Ganze verloren.» Und falls Probleme auftauchen, werde nicht die Regulierung an sich in Frage gestellt, sondern um eine weitere Vorschrift ergänzt.
Ein ganzes Arsenal an Regulierungsinstrumenten
Wie bei den Hundekursen: Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen hat das Obligatorium evaluiert. Das Resultat: 128 Seiten.
Die Autoren schlagen darin eine «Verbesserung der Durchsetzung der Ausbildungspflicht» vor, «bessere Qualitätssicherung, Anpassungen respektive Flexibilisierung der Kurse für Zweithundehalter und bessere Durchsetzung des Besuchs des Theoriekurses vor dem Hundekauf». Ein Satz, hinter dem ein ganzes Arsenal an Regulierungsinstrumenten steckt.
Zwei Hauptschuldige
Hört man sich in der Wirtschaft um, dann gibt es für den Regulierungsschub zwei Hauptschuldige: die Verwaltung und die Politiker. Beide schieben sich wiederum gegenseitig den Schwarzen Peter zu – oder dann der Wirtschaft.
Denn nicht selten sind es einzelne Branchenverbände, die in der Verteidigung ihrer Partikularinteressen neue Standards setzen wollen – um so potenziellen Konkurrenten den Marktzutritt zu erschweren. Oftmals argumentieren sie dabei mit Stichworten wie «Sicherheit» und «Qualität», und meist kommen sie damit durch.
Aber die Wirtschaft verbürokratisiert sich auch selbst. Ohne Zustimmung aus der Compliance- und Rechtsabteilung läuft nichts mehr. Verträge zwischen Unternehmen, die einst zwei oder drei Seiten umfassten, sind heute zehnmal so dick – wenn nicht noch umfangreicher.
«Vollkaskomentalität» und «Null-Risiko-Hysterie»
Rudolf Minsch spricht von einer «Vollkaskomentalität», Gerhard Andrey, Mitgründer der Webagentur Liip, von einer «Null-Risiko-Hysterie» oder einer «100-Prozent-Abdeckung-Paranoia». Statt die statistischen Ausreisser zu ignorieren, würden überall – bei der öffentlichen Hand wie in den Unternehmen selbst – Vorschriften und Kontrollmechanismen aufgestellt, mit denen auch wirklich jeder Einzelfall erfasst wird.
Oder anders gesagt: «Alle müssen leiden, nur damit man jeden potenziellen Missbrauch schon zum Voraus geregelt hat.» Andreys Fazit: «Diese überbordende Regulierung ist Ausdruck eines Verlustes von Vertrauen: in alle und in alles.» Die viel gescholtene Bürokratie ist seiner Ansicht nach nur Symptom, «Ursache ist eine besitzstandwahrende, ängstliche Gesellschaft». Die Menschen seien nicht mehr bereit, ein Risiko auf sich zu nehmen, sagt auch SGV-Ökonom Schneider.
Bevölkerung sieht Regulierung als «wichtig»
Tatsächlich beurteilt die Bevölkerung die Zielsetzungen der Regulierung als «wichtig», insbesondere bei den Themen Umweltschutz und Gesundheit. 47 Prozent erachten auch das heutige Ausmass an Regulierung als «gerade richtig». Das zeigt eine Studie, die das Institut für Politikwissenschaft der Uni Zürich im Auftrag der Stiftung StrategieDialog21 des Unternehmers Jobst Wagner realisiert hat.
Gleichzeitig beklagt sich eine starke Minderheit von 42 Prozent über zu viele Vorschriften. Gefragt nach Branchen, sind die Befragten aber mehrheitlich mit dem Status quo zufrieden. Für die Internetwelt wünschen sie sich sogar «mehr Regeln». Die Befragten bevorzugen dabei nationale gegenüber kantonalen oder kommunalen Vorschriften. Und diese müssen ihrer Ansicht nach nicht unbedingt vom Staat verordnet werden, denn hohe Akzeptanz geniesst auch die Selbstregulierung.
Im Zweifelsfall für den Nutzen
Eine weitere Erkenntnis der Studie: Die Leute sind sich nicht bewusst, welche Kosten Regulierungen verursachen. Im Zweifelsfall für den Nutzen, lautet ihre gängige Antwort. Hier will Wagner nun nachhaken. Eventuell mit einer weiteren Studie. Denn er ist überzeugt: «Kann man aufzeigen, wie hoch die Kosten tatsächlich sind und auf was alles wir verzichten müssen, würden die Bürger anders urteilen.»
Um das Thema voranzutreiben, organisiert Wagner am 21. September zudem einen Anlass mit Swatch-Group-Lenker Nick Hayek, Jungunternehmer Urs Haeusler, Seco-Arbeitsmarktchef Boris Zürcher sowie Unia-Präsidentin Vania Alleva. Jobst Wagners Antrieb ist sein Glaube an die Eigenverantwortung, wie er sagt. «Wir müssen diesen Regulierungswahn stoppen.»
Die Frage ist nur: wie? Mit einer Grossreform, die wirklich einschenkt? Zwei der grössten administrativen Kostentreiber sind schon seit langem identifiziert: die Mehrwertsteuer und das Baurecht. Das Seco beziffert die Regulierungskosten für die Unternehmen in diesen beiden Bereichen auf 1,76 respektive 1,6 Milliarden Franken pro Jahr. Aber jeder Versuch der Eindämmung scheitert, bei der Mehrwertsteuer am Widerstand all jener Interessengruppen, die heute von Ausnahmen und Sondersätzen profitieren. Und bei den Baunormen am Föderalismus.
Die häufigsten Ärgernisse
Die Mehrwertsteuer und die Baunormen sind denn auch die in der Wirtschaft am häufigsten genannten Ärgernisse. Ebenfalls ganz weit oben auf der Liste sind die langwierigen Bewilligungsverfahren für Nicht-EU-Bürger – und die Angst, dieses Prozedere in Zukunft auch für europäische Angestellte durchlaufen zu müssen, falls das Abkommen zur Personenfreizügigkeit wegfällt. Oft kritisiert werden weiter die Bankenregulierung, die Swissness-Vorlage, die seit Anfang Jahr neu durchgesetzten Arbeitszeiterfassungsvorschriften sowie die Zollabwicklung.
«Wenn ich heute zur Reparatur oder für den Export ein Werkzeug ein- beziehungsweise ausführe, müsste ich fast ein Studium in Logistik haben, damit ich bei kleinen Fehlern nicht mit Sanktionen oder teuren Strafen rechnen muss», sagt Josef Landtwing, Geschäftsführer der Landtwing Werkzeugbau AG. «Das hat meistens nichts mit dem ausländischen Zoll zu tun, sondern mit unseren Schweizer Zollbeamten, die peinlich genau dem Buchstaben nach arbeiten. Das erhöht unseren Aufwand und braucht immer viel Zeit. Da braucht es endlich Vereinfachungen!»
Absurde CO2-Regeln
Und immer wieder kritisieren die Unternehmer die CO2-Gesetzgebung respektive die darauf basierende Verordnung. Ziel der Übung ist die Reduktion von CO2. Auch mittels ökonomischer Anreize: Firmen, die sich freiwillig verpflichten, ihren CO2-Ausstoss merklich zu senken, und dies auch nachweisen können, erhalten die Abgabe zurück.
Doch das zuständige Bundesamt für Umwelt (Bafu) hat die Regeln verkompliziert und den Kreis der zugelassenen Unternehmen stark eingeschränkt: So darf etwa eine Fabrik, die mehr als 40 Prozent ihres Energieverbrauchs für das Beheizen der Produktionshalle benötigt, nicht mitmachen, da «Heizen» nicht der definierten Haupttätigkeit entspricht.
Ein Hotel wiederum, das mehr Energie für die Küche als für die Heizung braucht, darf sich nicht befreien lassen, da in diesem Fall die Haupttätigkeit «Hotelbetrieb» nicht mehr gegeben ist – und «Kochen» im berüchtigten Anhang 7 der CO2-Verordnung nicht explizit aufgelistet ist und damit keine Rückerstattung erlaubt.
Die Liste solcher Absurditäten lässt sich endlos fortsetzen, weshalb es auch nicht erstaunlich ist, dass sich Unternehmen und Verbände so vehement gegen Gegenvorschläge zur «Grünen Wirtschaft» gewehrt haben. Denn alles, was aus dem Bafu kommt, klingt aufgrund ihrer Erfahrungen schon mal verdächtig.
Klein- und Kleinstanpassungen sehr schwierig
Wenn also der Ausweg aus dem Regulierungsdickicht nicht über Grossreformen führt, dann vielleicht über viele Klein- und Kleinstanpassungen. Doch auch das ist schwierig. Denn die jeweiligen Profiteure einer Regulierung stehen beim Abbau ihrer Privilegien auf die Hinterbeine – und dem grossen Rest ist es egal. Wohl deshalb auch wartet Ständerat Daniel Jositsch noch heute auf die Liste mit Gesetzen, die man abschaffen könnte.
Weder Economiesuisse noch andere Verbände sind auf sein Angebot eingegangen, ihm konkrete Beispiele von Gesetzen zu liefern, die man streichen könnte. Dabei würde er sie unterstützen, denn sogar er als Sozialdemokrat und Jurist ist überzeugt, dass es heute zu viele Gesetze gibt. «Man muss aber auch bereit sein zu akzeptieren, dass dann auch mal etwas schiefgehen kann.» Jositsch selbst ist gewillt, dieses Risiko einzugehen, und hat Nosers Hundevorstoss unterstützt.
Wirkungslose zeitliche Terminierung
Keine Grossreform, keine Liste der kleinen Schritte – gegen die Bürokratie braucht es andere Rezepte. Mediale Hochkonjunktur geniessen seit kurzem Ideen aus der Managerwelt, wie «one in, one out» oder gar «one in, two out». Oder die «Sunset Legislation», bei der ein Gesetz zeitlich limitiert ist. Henrique Schneider attestiert diesen Instrumenten zwar einen «theoretischen Charme», doch in einer empirischen Überprüfung versagten sie regelmässig.
Bestes Beispiel für eine wirkungslose zeitliche Terminierung ist der Mehrwertsteuer-Sondersatz für die Hotellerie, der 1996 befristet eingeführt und seitdem schon zigmal verlängert wurde.
Unabhängige Prüfstelle
Vielversprechender ist laut Schneider die Schaffung einer unabhängigen Behörde, die standardisierte Regulierungsfolgeabschätzungen vornimmt oder wenigstens überprüft. Regulierungsfolgeabschätzungen sind zwar heute schon obligatorisch bei neuen Vorlagen, aber die Pflichtübung wird je nach Amt mit mehr oder weniger Begeisterung vorgenommen. Je überzeugter die Behörde von der neuen Vorschrift ist, desto kleiner ihre Motivation, diese bei der Kostenabschätzung als teuer dastehen zu lassen.
Der Bundesrat wollte bis anhin nichts von einer unabhängigen Prüfstelle wissen, obwohl dem Vernehmen nach Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann dafür geworben hatte. Doch jetzt hat das Parlament das Heft in die Hand genommen und zwei entsprechende Motionen überwiesen. Gemäss dem Avenir-Suisse-Ökonomen Peter Buomberger ist ein standardisiertes Verfahren sogar eine zwingende Bedingung für die Lösung des Problems. «Ökonomische Fragen lassen sich erst beantworten, wenn man sich zuvor auf eine allgemein akzeptierte Berechnungsmethode geeinigt hat.»
«Regulierungsbremse»
Für den Gewerbeverband reicht das noch nicht: Schneider plädiert zusätzlich für eine «Regulierungsbremse», die für bestimmte Parlamentsentscheide ein qualifiziertes Mehr vorschreibt – zum Beispiel wenn durch die neue Vorschrift für mehr als 10'000 Firmen Mehrkosten entstehen oder wenn ein festgelegtes Kostendach überschritten wird.
Bis eine griffige Formel steht oder eine unabhängige Prüfstelle installiert wird, will Noser mit dem bestehenden Instrumentarium arbeiten. «Wenn wir jedes Jahr drei, vier Gesetze streichen, dann haben wir mehr erreicht als in den letzten paar Legislaturen.» Erster Prüfstein: der obligatorische Hundekurs.