Nach Ihrem Abgang bei Le Shop sind Sie für E-Commerce-Händler in Deutschland, Russland und der Türkei aktiv. Wie bringen Sie das alles unter einen E-Hut?
Dominique Locher: Mit guter Planung und Fokus auf das Wichtige. In der Regel bin ich alle zwei Monate für mehrere Tage bei Ozon.ru in Moskau sowie bei Migros Türk in Istanbul. Plus regelmässig mehrere Tage bei Edekas Bringmeister in Deutschland. Und neu auch bei Farmy.ch.
Sie sind als Investor und Mentor beim Online-Markt Farmy.ch eingestiegen. Weshalb das Engagement bei der Nummer drei des Schweizer E-Food?
Weil frische Lebensmittel via Internet ein riesiges Potenzial haben. Die Atmosphäre bei Farmy.ch erinnert mich an meine Einstiegszeit vor zwanzig Jahren. Leute, die die Welt verändern wollen, eine Truppe in der Sturm-und-Drang-Phase. No politics, no bullshit – einfach Vollgas in einem Feld, das erst jetzt so richtig bestellt wird.
Sie investieren zwar, werden aber nicht Verwaltungsrat bei Farmy.ch. Weshalb?
ls Mentor beteilige ich mich im ständigen Austausch mit ganz verschiedenen Akteuren am Aufbau des Unternehmens – von Vertrieb über Geschäftsleitung bis zum Verwaltungsrat. Dabei nehme ich eine spezielle Rolle ein. Das reicht von urtaktischen Ideen bis zur Unterstützung von strategischen Entscheiden. Das ist eine andere Rolle als die eines Verwaltungsrats.
Ist Ihr Einstieg bei Farmy.ch ein Racheakt an Ihrem vorherigen Arbeitgeber, der Le Shop-Inhaberin Migros?
Überhaupt nicht. Das ist eine Denke aus der Old Economy. Ich bin kein Rächer. Sondern Aufbauer. Wenn einzelne Player in diesem Feld stärker werden, nützt das dem ganzen Sektor.
Hatten Sie kein Konkurrenzverbot, mindestens für die Schweiz?
Hatte ich nicht. Das würde auch keinen Sinn machen, weil es in unserer Branche faktisch einem Berufsverbot gleichkäme.
Online-Supermärkten wurde einst eine gewaltige Entwicklung zugetraut. In der Realität aber wachsen die Umsätze von Coop@home und Le Shop nicht gewaltig.
Das hat mit zwei Entwicklungen zu tun. Erstens einmal stecken grosse Retailer in der Transformationsfalle. Sie wollen zwar auf dem digitalen Feld erfolgreich sein, haben aber gleichzeitig Angst, ihr bisheriges Geschäft zu gefährden. Farmy.ch als Online-Pure-Player kann ohne Last der stationären Vergangenheit viel bewegen.
Und die zweite Entwicklung?
Das Leben der Konsumenten verändert sich. Der Anteil an den Haushaltsausgaben für Lebensmittel sinkt. Was aber nicht heisst, dass die Konsumenten weniger essen und trinken. Sie geben ihr Geld einfach stärker für Restaurantbesuche, Take-away, Lieferdienste und Mahlzeitenboxen aus. Für die Branche wird der «share of plate» wichtiger, also der Anteil aller Ausgaben für das, was beim Konsumenten auf den Teller kommt. Egal ob daheim, unterwegs oder in der Gastronomie. Bei den Konsumenten zu Hause läuft der Trend vom «home cooking» zum «no-cooking». Wenn tatsächlich gekocht wird, stehen Werte wie Nachhaltigkeit, Frische und punktgenaue Food-Lieferung im Vordergrund. Genau hier ist der Online-Hofladen Farmy.ch erfolgreich.
Alter: 49
Karriere: Von 2000 bis 2017 bei Le Shop, zunächst verantwortlich in der Geschäftsleitung für Marketing und Verkauf, seit 2013 CEO
Seit 2017: Auf Mandatsbasis tätig für den Online-Lebensmittelmarkt Bringmeister (Edeka Deutschland), Migros Türk (Türkei) und Ozon.ru (Russland), aktuell zusätzlich Investor und Mentor unter anderem bei Farmy.ch
Ist das nicht bloss ein kleines Segment?
Es ist nicht der Massenmarkt. Aber dafür eine Nische, die grösser ist, als man denkt.
Heute nehmen Schweizer Online-Supermärkte erst 2 Prozent des Marktvolumens ein. Mode und Elektronik sind viel weiter. Wie entwickelt sich E-Food?
Ein Marktanteil von 10 Prozent ist realistisch.
Bis wann?
Das wird spätestens im April 2020 der Fall sein (lacht). Im Ernst: Wer hier Prognosen wagt, ist zu mutig – das ist nicht seriös. Es braucht alles seine Zeit – und die technologischen Entwicklungen erfolgen sehr sprunghaft. Aber ich freue mich darauf, diesen Weg zu begleiten. In Südkorea ist man bei fast 20 Prozent, in England bei 9 Prozent, in Frankreich bei 6 Prozent.
Kürzlich sagte uns Volg-Chef Ferdinand Hirsig, dass man E-Food nie profitabel betreiben werden könne. Weil die letzte Meile – die Kühlkette bis zur Anlieferung der Lebensmittel an der Haustür – schlicht zu teuer sei. Liegt er falsch?
Ich kenne Ferdi gut, wir sind in regelmässigem Kontakt und treffen uns, wenn unsere Agenden das zulassen, regelmässig auf einen Wurst-Käse-Salat. Ja, die letzte Meile ist teuer. Aber seiner isolierten Aussage muss ich widersprechen. E-Food kann profitabel sein – wenn man drei Punkte im Auge hat.
Welche drei Punkte?
Erstens muss die Marge auf den gehandelten Gütern stimmen. Zweitens geht es darum, Picking und Packing – also das Rüsten der Bestellungen – zeit- und kostenschonend zu erledigen. Im Gegensatz zu einer Kleider- oder Buchbestellung hat man hier nicht nur zwei oder drei Artikel zusammenzutragen, sondern bis zu fünfzig, aus bis zu vier verschiedenen Temperaturzonen. Und drittens – hier liegt der gute Ferdi richtig – muss die Auslieferung in allerhöchster Effizienz gelingen.
Kürzlich sind Sie bei der Westschweizer Léguriviera Groupe als Verwaltungsrat eingestiegen. Worum geht es hier?
Es geht immer ums Gleiche: Kunden mit exzellenter Technologie glücklich zu machen. Léguriviera ist heute der bedeutendste Früchte- und Gemüselieferant der Haute Hôtellerie und Gastronomie am Genfersee. Bislang wird da noch voll analog gearbeitet, doch das kann sich ändern.
Sie meinen, in diesem Business regieren noch Fax und Telefon? Löst das bei einem Digital-Evangelisten nicht pausenlose Schreikrämpfe aus?
Aber nein. Ich sehe den Betrieb per Fax und Telefon als charmante Antiquität. Aber die Zeit bleibt eben nicht stehen.
Nachdem die Migros 2017 den Betrieb von zwei Schweizer Le Shop-Ausliefer-Pilotstationen abgewürgt hat, eröffnet nun Amazon in den USA erste solcher Drive-Stationen. Wohl nach Schweizer Vorbild, denn Amazon war auf Besuch bei Ihnen, als Sie noch Le Shop-Chef waren. Überwiegt da der Frust oder die Genugtuung?
Sorry, in solchen alten Denkmustern funktioniere ich nicht. Wenn sich in dieser Sache überhaupt ein Gefühl regt, dann eine leichte Portion Stolz.
Inländervorrang: Noch können die Platzhirsche Coop und Migros die hiesige Online-Supermarktszene quasi im Alleingang gestalten. Coop@home (Umsatz 2017: 142 Millionen Franken, Tendenz steigend) und die Migros-Tochter Le Shop (181 Millionen Franken, flache Entwicklung) stehen mit Abstand an der Spitze. Konkurrenz haben sie – ausser durch neue Aktivitäten von Brack.ch und Volg – kaum.
Kecker Farmy.ch: Als Nummer drei der Szene etabliert sich das Zürcher Startup Farmy.ch, gegründet 2014 als «Online-Hofladen». Die Idee: Vermittlung von Lebensmitteln frisch ab Bauernhof. Heute sei diese Definition nicht mehr zutreffend, sagt Farmy.ch-Co-Gründer Roman Hartmann. Das Sortiment wuchs von 3500 auf 6000 Positionen, darunter Drogerieartikel, Tiernahrung und Naturkosmetik. Neue Definition: «Online-Markt für den transparenten Wocheneinkauf.»
Warenkörbe: «Wocheneinkauf» tönt wie ein Relikt einer Zeit, da der Konsument brav am Samstag beim Grossverteiler das besorgte, was bis zum kommenden Freitag reichen sollte. Doch genau darum geht es Hartmann: «Wir wollen loyale Kunden, die regelmässig bei uns einkaufen.» Das scheint zu gelingen. Im ersten Halbjahr sei der Umsatz um 60 Prozent gewachsen. Gemessen am letztjährigen Umsatz von geschätzten 6 Millionen Franken sollte dieses Jahr erstmals die 10-Millionen-Grenze fallen. Aktuell forciert Farmy.ch einen Bestellmodus, der Kunden in Metropolgegenden erlaubt, den Weg der Lieferung à la Uber im Live-Tracking zu verfolgen. Zudem wird ab einer Bestellung von 50 Franken kostenlos geliefert.
Nachzügler: Bei Themen wie Tickets, Hotelbuchungen und Kleidern ist E-Commerce bei der Bevölkerung längst angekommen. Beim Food wachsen die Bäume (noch) nicht in den Himmel. Nur 2 Prozent des Volumens laufen über den Online-Kanal. Gemäss aktuellen BFS-Zahlen bestellen Schweizer online sogar häufiger Möbel als Rüebli, Bananen und Steaks.