Zum Auftakt ihres hundertsten Geschäftsjahres liefert die Migros einen ebenso einfallsreichen wie unterhaltsamen und augenzwinkernden Werbespot. Darin wird die Firmensaga als «Jahrtausendidee» inszeniert, die fernab der bisher bekannten Geschichtsschreibung schon in der Steinzeit, im alten Ägypten, in Pompeji und in Mozarts Klavierkasten wurzelt. So vergnüglich kam Migros-Werbung schon lange nicht mehr daher. Eine Hundertjährige (und ihre Werbeagentur) sorgen für grosses Kino mit hohem kreativen Haltbarkeitsdatum.
Auch die Kundinnen und Kunden sollen etwas zu feiern haben. Im Jubiläumsjahr lässt die Migros ihre berühmten Verkaufswagen noch einmal auffahren und bietet auf einer landesweiten Tournee Comedy- und Kleinkunstshows zum Spartarif. Oder, wie es der orange Riese nennt, «zu Preisen wie vor hundert Jahren». Auch hier also ein Blick zurück. Nicht ganz bis in die Steinzeit, aber sicher bis in jene Jahre und Jahrzehnte, als es in der Schweiz noch das kuschelige Duopol Migros und Coop gab. Die Zeit vor 2005 und 2009, als Aldi und Lidl in die Schweiz kamen und den orangen Riesen seither pieksen, plagen und zwacken, wo und wie sie nur können.
Migros-Jahr 100 heisst auch: Jahr 20 nach Aldi Suisse
So tief und flächendeckend sind diese Nadelstiche im Jahr 20 nach Aldi Suisse (und 16 nach Lidl Schweiz) mittlerweile, dass sich die Migros die grösste Schrumpfkur all ihrer Zeiten verordnen muss. Ab- und umgebaut wird in einem Tempo und mit einer Härte, die das orange M oft in einer Art aufblitzen lässt, die eher ans Effizienz-Testosteron von McKinsey als an die jahrzehntelang so volkswohlorientiert wahrgenommene Migros erinnert.
Natürlich – von dieser schmerzhaften Häutung will man aktuell lieber nichts oder so wenig wie möglich wissen. Vielmehr steht im Jubiläumsjahr der Kundendank an oberster Stelle. So gross ist der perpetuelle Rausch des Dankesagens, dass die Migros sogar ihr Logo partiell als «Merci» auftreten lässt. Der vormalige Slogan «Migros macht meh für d Schwiiz» gerät dabei etwas unter die Merci-Walze. Dabei wurde er nicht in Pompeji und nicht in Ägypten lanciert, sondern deutlich nach Christus, im Jahr 2023.
Genau an dieses starke Versprechen, mehr (als andere) für die Schweiz zu tun, sollte sich die Migros spätestens ab dem 101. Jahr ihres Bestehens erinnern. Allein auf der Effizienzebene und in einer Preisschlacht gegen die Discounter kann die Migros die Herzen ihrer Kundinnen und Kunden nicht (zurück-)gewinnen. Viele Schweizerinnen und Schweizer ächzen unter steigenden Mieten und Krankenkassenprämien. Sie fragen sich, ob der Traum vom Eigenheim ausgeträumt ist. Kann die Migros oder eine ihrer vielen Töchter hier etwas bieten, das über den reinen Konsum hinausgeht? Eine Initiative vielleicht, die wie Duttis Kulturprozent oder die Klubschulen zeigt, wie sehr sich die Migros engagiert? Dass sie mehr ist als eine Firma – ein Unternehmen, welches das Wohlergehen ihrer Genossinnen und Genossen fördert?
Da müsste ein Ruck durchs Unternehmen gehen. Ein Ruck, der nicht allen Hundertjährigen zuzutrauen ist. Aber bestimmt einem Unternehmen, das für sich in Anspruch nimmt, die Schweiz mit einer ersten «Jahrtausendidee» bereichert zu haben. Gratulation!