Kennen Sie Inga Beale? – Inga wer? – Inga Beale, die neue Chefin des Rückversicherers Converium. – Aha, nein, die kenne ich nicht.
Wer sich in Schweizer Wirtschaftskreisen über Inga Beale informieren will, muss rasch feststellen, dass sie kaum jemandem ein Begriff ist. Das muss daran liegen, dass sie erst seit drei Monaten hier ist und bislang nicht die Gelegenheit hatte, sich einem breiteren Publikum zu präsentieren. Denn: Wer dieser Frau begegnet, vergisst sie nicht. Inga Beales Lächeln ist herzerwärmend, ihre Stimme wohlklingend, ihre Natürlichkeit beeindruckend; die 42-Jährige hat die Gabe, andere für sich einzunehmen.
So geschehen an der Bilanzpräsentation vom 15. März. Kein Journalist, der in seiner Berichterstattung nicht mindestens eine Bemerkung über ihre gewinnende Art einbaute. Kein Analyst, der das Gespräch über Inga Beale nicht mit einer Bemerkung einleitet wie «sie kommt gut rüber» oder «ich war positiv überrascht».
Inga Beale führte in britischem Englisch durch die Jahresrechnung 2005. Es war ein teures Jahr, kaum je hat es so viele Naturkatastrophen innert so kurzer Zeit gegeben. Wintersturm «Erwin», die Augustflut in Europa und die drei Hurrikane «Katrina», «Rita» und «Wilma» haben bei Converium Kosten von 150 Millionen Dollar verursacht. Trotzdem schaute am Ende ein Gewinn von 68,7 Millionen Dollar heraus. Weil sie 2005 noch nicht im Unternehmen war, wusste Inga Beale auf die eine und andere Frage aus dem Plenum keine Antwort, gab das ungeniert zu und reichte das Wort weiter an Mitarbeiter, die Bescheid wussten. «So ist Inga», sagt eine ihrer früheren Arbeitskolleginnen bei General Electric, «sie lässt andere kompetent sein.»
Beale selber hat sich fürs Erste offensichtlich vorgenommen, bei Converium die Moral zu heben und Lust auf die Zukunft zu wecken. «Ich bin überzeugt, dass wir den richtigen Weg zur vollständigen Erholung eingeschlagen haben», sagt sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Und: «Wir wollen wieder unter die Top Ten der Rückversicherer.» Derzeit steht Converium je nach Rangliste zwischen den Positionen 15 und 20. Sie ist zuversichtlich, in absehbarer Zeit dort anzukommen: «Wir haben hier alles, was es für den Erfolg braucht. Wir müssen nur noch über die Vergangenheit hinwegkommen» (siehe Nebenartiekl «Converium: Zum Wachstum verdammt»). Der Funke springt über, auch auf Investoren und Analysten: Nach der Bilanzpräsentation stieg der Kurs der Converium-Aktie um 7,5 Prozent.
Die Zahlen, die sie präsentierte, waren nicht ihre, sondern die ihres Vorgängers, Terry Clarke. Er wurde CEO ad interim, als Converium in die Krise rutschte. Der 64-jährige Brite, von Berufs wegen Aktuar, hat Converium stabilisiert. Dafür hätte er gerne den Verwaltungsratsposten wiedergehabt, den er damals zu Gunsten des CEO-Einsatzes aufgegeben hatte. Pech für Clarke, dass Converium versprochen hat, dieses Jahr im Sinne eines Generationenwechsels und eines Neuanfangs den Verwaltungsrat mit neuen Mitgliedern zu besetzen. Glück für Inga Beale, dass dabei keine Kompromisse gemacht worden sind: Ihre erste grosse Aufgabe besteht nämlich darin, dafür zu sorgen, dass Converium von der britischen Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) wieder bessere Noten bekommt. Gegenwärtig steht Converium mit BBB+ auf der Liste, ist damit in Märkten wie England und Australien nicht konkurrenzfähig und kann dort keine Verträge abschliessen. «Die Verbesserung unseres Finanzkraft-Ratings vor Ende dieses Jahres ist mein wichtigstes kurzfristiges Ziel», sagt Inga Beale. Für das begehrte A-Rating reichen gute Zahlen allein aber nicht aus. Auch Management, Verwaltungsrat und Personalwechsel werden von den Ratingagenturen kritisch begutachtet. Inga Beale geht davon aus, den Anforderungen von S&P zu genügen, wenn Mitte Juni das grosse Treffen stattfindet. Die Bindung zentraler Mitarbeiter nennt sie in diesem Zusammenhang «einen besonders kritischen Punkt».
Um der Gefahr gegenzusteuern, dass Spezialisten das ins Trudeln geratene Unternehmen verlassen, hat das Converium-Management eine Belohnung von einem Jahressalär fürs Durchbeissen bezahlt; 30 Millionen Dollar hat dieser Effort gekostet. Inga Beale hat kein solches Budget zur Verfügung, und sie hat es auch nicht nötig. «Dass sie kam, ist für uns alle wie ein Befreiungsschlag», sagt ein Converium-Mann, «das Einzige, was das Management in den letzten Monaten noch geeint hat, war der Missmut über den bremsenden CEO.»
Nun, da der Turnaround geschafft ist, muss Inga Beale Converium wieder beleben. Dafür scheint sie wie geschaffen: Sitzungen ohne Entscheide sind für sie verlorene Zeit. Sie gilt als Managerin, die rasch erkennt, worauf es ankommt, und das dann nicht mehr aus den Augen verliert. Sind Entscheide getroffen, gibt es für sie nur noch eins: umsetzen. «Nicht hinterfragen», sagt sie, «das gibt nur Unsicherheit.» Die hohe Kunst der Führung sieht sie vor allem darin begründet, «Leute dazu zu bringen, eine Entscheidung zu unterstützen und so auch mitzutragen, und zwar mit einer gewissen Dringlichkeit».
Hier spricht Inga Beale, die 14 Jahre beim amerikanischen Konzern General Electric gearbeitet hat. Von dort stammt auch ihre Überzeugung, dass Beförderungen nur auf Grund von Leistung zu rechtfertigen sind – dann aber «ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder Nationalität». Oder dass Teams mit möglichst unterschiedlichen Persönlichkeiten die besten sind. Bei GE, diesem möglicherweise amerikanischsten aller amerikanischen Konzerne, hat Inga Beale das Rüstzeug zur Managerin bekommen und am Leben als Karrierefrau Gefallen gefunden.
Vor GE hatte sie anderes im Kopf: Rugby zum Beispiel. «Dieser Sport war für mich das Wichtigste», sagt sie und erzählt, wie sie als 19-Jährige aus der britischen Kleinstadt Newbury nach London zog, um dort eine Anstellung zu finden, bei der sie abends früh genug aus dem Büro konnte, um rechtzeitig beim Training zu sein. Ihren «nine-to-five job» findet sie schliesslich beim Versicherer Prudential, Abteilung Rückversicherungen. Büro in der Londoner City, internationale Kunden, Kontakte in aller Herren Länder und Verträge über Milliardensummen – sie ist zwar rein zufällig in der Branche gelandet, aber schon nach kurzer Zeit hingerissen.
Nach sieben Jahren braucht sie eine Pause. In der von Männern dominierten Arbeitsumgebung wird es ihr zunehmend unwohl: «Ich war stets im Wettbewerb mit Männern und versuchte zu sein wie sie.» Sie macht ein Sabbatical, reist nach Australien, nimmt dort einen Temporärjob beim TV-Sender BBC an und hat erstmals eine Frau zum Chef. «Sie brachte mich zur Überzeugung, dass das einzig Richtige ist, sich selbst zu bleiben.» Inga Beale kehrt zu ihren Kollegen in London zurück mit dem Vorsatz, Mann-Frau-Unterschiede zu akzeptieren, statt dagegen anzukämpfen. Sie regt sich nicht mehr darüber auf, dass ihre männlichen Kollegen mit Mister XY angesprochen werden, sie aber nur als Inga. Und sie zwingt sich auch nicht mehr dazu, ihre Kunden in Nachtclubs auszuführen, sondern ignoriert diesen chauvinistischen Brauch einfach. «Dadurch bin ich viel gelöster geworden», sagt sie.
1992 holt sie ein ehemaliger Arbeitskollege zu GE Insurance Solutions. Nach einem Jahr übernimmt sie dort ihre erste Führungsverantwortung, leitet ein Viererteam. «Da habe ich zum ersten Mal an eine Berufskarriere gedacht», sagt Inga Beale. Ihren sportlichen Ehrgeiz leitet sie fortan in die Arbeit um und klettert Stufe um Stufe die Karriereleiter hoch. Im Jahr 2001 erhält sie das Angebot, nach Kansas City in die Konzernzentrale zu wechseln. «Das habe ich mir lange überlegt», sagt Inga Beale. Schliesslich entscheidet sie sich, London, Freunde, Kunden- und Verkaufsfront zu Gunsten eines Postens im Corporate Backoffice aufzugeben. Ihre neue Aufgabe bringt sie in engen Kontakt mit dem Senior Management, CEO inklusive. «Das darf man für eine Karriere nicht unterschätzen.»
Inga Beale kehrt 2002 zurück nach Europa, an die Kundenfront. Sie wird Chefin des Property-and-Casualty-Geschäfts von GE Insurance Solutions und ist verantwortlich für die Märkte Kontinentaleuropa, Mittlerer Osten und Afrika. Leben kann sie in Paris, «das hat mir sehr, sehr gefallen». Fünfzehn Monate später steigt sie noch eine Stufe höher, wird CEO von GE Frankona Re und zügelt nach München. Im Februar 2006 nimmt sie den nächsten Satz und landet an der Spitze des Rückversicherers Converium in Zürich. Für diesen Posten angefragt worden ist sie von der Headhunterfirma Egon Zehnder. Und zwar kurze Zeit nachdem bekannt geworden war, dass Swiss Re das Versicherungsgeschäft des Mischkonzerns GE für 7,6 Milliarden Dollar übernehmen will. Der Wechsel zu Converium ist ihr dadurch möglicherweise leichter gefallen, entscheidend war das aber nicht. «Ich hörte Kunden immer wieder positiv über Converium sprechen», sagt Inga Beale, «dieser gute Ruf war für mich ein wichtiger Beweggrund.»
Gereizt hat sie auch die Aussicht, «statt CEO eines Teilbereichs in einem riesigen Gebilde zu sein, CEO eines ganzen Unternehmens zu werden». Inga Beale überlegt nicht lange, als ihr der Posten angeboten wird. Insbesondere bei der Zusammenarbeit mit Markus Dennler, dem neu gewählten Verwaltungsratspräsidenten und damaligen Mitglied des Nominationskomitees, stimmt die Wellenlänge. «Sie ist ein Profi, der bei allem sehr menschlich geblieben ist», sagt Dennler und erzählt nicht ohne Stolz, er selbst habe Inga Beale ins Spiel gebracht. Sie sei ihm von einem Freund empfohlen worden. Die junge Frau steigt mit ein ins Auswahlverfahren und gewinnt das Rennen gegen drei Mitkonkurrenten, alles Männer, darunter zwei Converium-Manager. «Wir haben gleich bei unserem ersten Treffen darüber gesprochen und das Thema damit aus der Welt geschafft», sagt einer der Unterlegenen.
Hat er seine Niederlage tatsächlich so locker wegstecken können, oder ergreift er einfach die Flucht nach vorn, als er im nächsten Satz von Inga Beale zu schwärmen anfängt, sie als Vollprofi lobt, als jemand, der weiss, worauf es im Geschäft ankommt? Egal, denn beide Komplimente fliegen ihr auch noch von anderer Seite her zu: «Sie ist ein Profi», sagt René Locher, Analyst bei Kepler Equities, und sein Kollege bei der Zürcher Kantonalbank, Georg Marti, meint: «Sie wirkt sehr kompetent, fachlich wie auch menschlich.»
Das Menschliche, das Inga Beale zugesprochen wird, kommt daher, dass sie trotz ihrem Erfolg keine Attitüden zu haben scheint. Ihr ist vieles egal, was andere Chefs hochhalten: Von ihrer Assistentin erwartet zwar auch sie viel, aber nicht, wenn es darum geht, Kaffee zu bringen oder einen Tisch in einem Restaurant zu reservieren. Inga Beale trinkt Mineralwasser direkt aus der PET-Flasche, und ihr Privatleben ist privat. «Sie ist kein Boss, der eine Rundumbetreuung braucht», sagt ihre letzte Assistentin bei GE Frankona, «und mag es auch nicht, wenn man darauf wartet, dass sie einem sagt, was man tun soll.»
Als sie CEO von Frankona Re geworden ist, wollte sie ihr Büro nicht auf dem Topfloor haben, sondern mittendrin. Bei Converium hat sie sich zur Lage ihres Büros nicht geäussert und sitzt zusammen mit ihren Geschäftsleitungskollegen prompt ganz oben. Der Eindruck, dass ihr das Büro heute etwas bedeutet, kommt dennoch nicht auf: Auf den Fenstersimsen stehen noch immer die Nippes ihres Vorgängers, «ist mir noch gar nicht aufgefallen» (Beale), und ihr Pult ist so gestellt, dass sie nicht die Fensterfront mit freiem Blick auf Zürichsee und Glarner Alpen vor Augen hat, sondern ihre Bürotür. Die lässt sie am liebsten offen.
«Ich will nicht amerikanisch sein im Sinn: Wir sind super, alles läuft toll, hurra, wir sind die Grössten», antwortet Beale auf die Frage, was sie sonst noch aus ihrer Zeit bei GE bei Converium einführen will, «aber die Energie und diesen Vorwärtsdrang, der bei GE vorherrscht, möchte ich unbedingt auch hier haben.»
Wenn sie zurückdenkt, war es dieser Vorwärtsdrang, Inga Beale spricht von einem «certain sense of urgency», der dazu geführt hat, dass sie ihr Studium, kaum begonnen, schon wieder aufgegeben hat («I hated it!») und dass sie sich in all den Jahren bei GE standhaft geweigert hat, einen MBA zu machen. Und er hat auch dazu geführt, dass sie, statt zu heiraten und eine Familie zu gründen, Karriere gemacht hat. «Die Arbeit ist heute mein Leben», sagt sie. Von Montag bis Freitag gilt das ohne Einschränkung. An den Wochenenden arbeitet sie möglichst nie, nur schon, um keine falschen Zeichen zu setzen: «Ich erwarte von niemandem, dass er Tag und Nacht arbeitet, das ist ungesund und ein Killer für die Inspiration.»
Die Wochenenden verbringt sie zurzeit damit, Möbel für ihre Wohnung im Zürcher Kreis 6 zu kaufen. Danach will sie sich die Zeit nehmen, um ihre Freunde zu pflegen, die sie überall, wo sie weggegangen ist, zurückgelassen hat – «der Preis meiner Karriere». Sie sind Inga Beale mit jedem Karriereschritt wichtiger geworden. «Es kann sehr einsam sein an der Spitze eines Unternehmens», sagt sie, «ohne Freunde wäre es manchmal schwierig, damit umzugehen.» Was aus ihrem Hobby Sport geworden ist? Sport treibt sie heute nur noch unkompetitiven: Sie geht ins Fitnesscenter. Nein, dort stemmt sie keine Gewichte, sondern besucht Gruppentrainings mit schnellen Beats, hartem Sound – und einem Vorturner. «Das gefällt mir», sagt sie und fügt an, «it is lovely to be bossed around by somebody else if you are the boss all day long.»