Es ist bloss eine Fussnote im jüngsten Finanzbericht der Raiffeisen Gruppe. Aber eine mit Sprengkraft. Auf zehn Zeilen Kleingedrucktem beschreibt die Genossenschaftsbank den Zivilrechtsstreit um das KMU-Vehikel Investnet, an dem sich Raiffeisen 2012 unter Führung ihres damaligen Chefs Pierin Vincenz mit 60 Prozent beteiligt hatte.

Wie Recherchen der «Handelszeitung» zeigen, dürfte der Streitwert für Raiffeisen hier gegen 150 Millionen Franken betragen. Zu den potenziellen Geldbezügern, denen möglicherweise noch ein zweistelliger Millionenbetrag zusteht, gehört auch Ex-Chef Pierin Vincenz. Er war ab 2015 als Privatmann an der Holding des KMU-Vehikels beteiligt.

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Ära Patrick Gisel

Die Streitwert-Schätzung basiert unter anderem auf dem Raiffeisen-Finanzbericht 2018. Erstmals legt die Bank darin offen, wie viel sie das Ende der Investnet noch kosten würde, sollte sie die laufenden Zivilrechtsverfahren gegen die Minderheitsaktionäre verlieren. Raiffeisen spricht von «Verpflichtungen von 30 Millionen Franken sowie Eventualverpflichtungen im Umfang von 30 Millionen Franken».

Allerdings betreffen diese 60 Millionen Franken nur die erste Geschäftsphase des KMU-Vehikels von 2012 bis 2015. Für 30 Millionen davon liegt überdies eine Schuldanerkennung der Raiffeisen vor. Die Bank hat sie 2017 ausgestellt in der Ära von Chef Patrik Gisel. Die Schuldanerkennung wurde von Raiffeisen-Topmanagern unterzeichnet. Heute ficht die Bank auch dieses Dokument rechtlich an.

Nebst diesen bis zu 60 Millionen Franken aus der ersten Phase streitet Raiffeisen über eine weitere, grössere Summe: gegen 100 Millionen Franken oder mehr. Die Grundlage hierfür wurde im Aktionärsbindungsvertrag von 2015 geschaffen. Damals baute man eine Holdingstruktur für das KMU-Vehikel. Raiffeisen verpflichtete sich, zusätzlich zu den bisherigen 100 Millionen weitere 250 Millionen an Eigenkapital einzuschiessen. Man hegte hochtrabende Pläne, wollte gemeinsam einen Börsengang bis 2022 in der Grössenordnung von 1 Milliarde Franken.

Damals verpflichtete sich die Raiffeisen Schweiz, dass die Minderheitseigner der Investnet Holding ihre Anteile «nach einer vertraglich vereinbarten Bewertungsmethodik» der Bank andienen können. Und zwar frühestens ab Juli 2020, also in gut einem Jahr.

Die Raiffeisen Schweiz geht jedoch davon aus, dass es in diesem Zusammenhang zu keinen Zahlungen mehr kommt. Dies, weil die Bank die Verträge «aus wichtigem Grund» gekündigt hat und nun anfechtet. Dazu rüstet sich Raiffeisen auch finanziell, wie die jüngste Jahresbilanz zeigt: «Insbesondere die Unwägbarkeiten in den rechtlichen Auseinandersetzungen im Kontext Investnet» führten dort zu einem Anstieg der Rückstellungen um 25 Millionen Franken.

Investnet-Portfolio ist geschätzte 300 Millionen wert

Jene Put-Optionen der Investnet Holding, die im nächsten Sommer fällig werden, gehören Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und den beiden Mitgründern des KMU-Vehikels, Peter Wüst und Andreas Etter. Sie sind die Minderheitsaktionäre jener Holding, die heute als KMU Capital Holding firmiert. Vincenz und Wüst halten je 15 Prozent. Etter hat 10 Prozent.

Ein Indiz, wie viel Raiffeisen den Minderheitseignern noch schulden könnte, liefert ein bankeigenes Gutachten. Im Mai 2018 gab es der Beratungskonzern EY in der St. Galler Genossenschaftszentrale ab. Die Big-Four-Berater ermitteln darin den Marktwert der achtzehn grössten KMU-Beteiligungen aus dem Investnet-Portfolio. Sie kommen zum Schluss, dass der Marktwert etwa 60 Prozent über Einstands- beziehungsweise Mindestwert liegt. Ein deutlicher Hinweis darauf, wie operativ erfolgreich die Investnet in den letzten Jahren eigentlich arbeitete.

Gemäss EY-Gutachten liegt der Wert per 2017 bei rund 300 Millionen Franken. Nimmt man die Beteiligungsverhältnisse der Investnet Holding zum Massstab, wären schätzungsweise gut 100 Millionen Franken an die drei Minderheitseigner im nächsten Juli fällig. Mit anderen Worten: Raiffeisen müsste alleine ihrem Ex-Chef Pierin Vincenz nochmals über 35 Millionen Franken schütten, sollte die Bank im Zivilrechtsstreit unterliegen.

Allerdings hat sich die Situation seit der Schätzung von EY stark verändert: Im Februar 2018 schien die Entflechtung zwischen Raiffeisen Schweiz und den Investnet-Minderheitsaktionären um Vincenz und Co. gütlich geglückt zu sein. Die Bank veröffentlichte kurz vor dem Jahresergebnis ein Communiqué mit dem Titel: «Raiffeisen ordnet Beteiligungsverhältnisse neu». Darin heisst es, die «finanziellen Verflechtungen» würden «aufgehoben». Konkret war vorgesehen, die Kapitalgeberfunktion und das KMU-Management eigentumsrechtlich wieder sauber zu trennen: Die Bank hätte fortan in einer separaten Firma Eigenkapital für KMU-Nachfolgelösungen bereitgestellt. Investnet hätte diese Beteiligungen dann eigenständig betreut.

Raiffeisen-Communiqué greift vor

Nur, was Raiffeisen als Entscheid gemeldet hatte, war gar noch nicht vollzogen worden. Die Trennungspapiere waren zum Zeitpunkt des Communiqués nicht unterschrieben. Der Trennung in Minne kam die Strafuntersuchung gegen Vincenz, Etter und Wüst dazwischen.

Im Zuge diverser Ermittlungen wurde klar, dass in der ersten Investnet-Geschäftsphase bis 2015 der externe Raiffeisen-Berater und Vincenz-Vertraute Beat Stocker verdeckt 13,3 Prozent am KMU-Vehikel hielt. Dies war den Raiffeisen-Oberen – mit Ausnahme von Vincenz – nicht bekannt.

In der zweiten, der Investnet-Holding-Phase ab 2015, beteiligte sich Vincenz privat mit 15 Prozent. Noch als operativer Bankchef legte Vincenz seine Beteiligungsabsichten nicht angemessen offen und trat nicht in Ausstand. Ein Governance-Versagen der Raiffeisen, das die Finanzmarktaufsicht nicht alleine Vincenz anlastete: «Der Verwaltungsrat unterliess es, den naheliegenden potenziellen Interessenkonflikten nachzugehen und überwachte den Verkaufsprozess nur mangelhaft.»

Nichtsdestotrotz geht die neue Führung um Präsident Guy Lachappelle auf Konfrontation und macht «Willensmängel» geltend: Die Bank kappte die gültigen Verträge mit Investnet. Der Portfoliomanager musste schliessen und 20 Angestellte entlassen. Gleichzeitig beansprucht Raiffeisen 100 Prozent der Investnet Holding und schreibt auf dem Portfolio kräftig ab: 150 Millionen Franken an Wertberichtigungen und Rückstellungen. Schliesslich sind im Juli 2020 die Put-Optionen für Vincenz und Co. fällig.