Rolf Kommisso rechnet intensiv. Kommt die Initiative über die Mindestlöhne durch, muss er neu budgetieren. Der Lädelichef, der seiner Angestellten 17 Franken die Stunde zahlt, kalkuliert mit über 10'000 Franken Mehrkosten im Jahr. Auf einen Jahresumsatz von rund 1,5 Millionen Franken scheint der Betrag ein Klacks zu sein. Ihn mit Minipreis-Produkten wie Milch, Brot und Joghurt einzuspielen, ist allerdings schon fast eine Mammutaufgabe, wie Kommisso sagt. Der Mann heisst in Wahrheit anders. Seinen richtigen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Um zu vermeiden, dass die Kunden seine Lohnstruktur erfahren. Und um zu verhindern, dass man über die Zukunft seines Ladens spekuliert.
In der Debatte um die Mindestlohn-Initiative war von Lebensmittelhändlern, die mit ihren Salären unter dem Lohn von 22 Franken die Stunde oder 4000 Franken im Monat mal 12 liegen, kaum die Rede. Doch es gibt sie. Detailhändlerin Volg beispielsweise liegt mit einem Monatslohn von 3525 Franken mal 13 für Ungelernte unter der Schwelle. Auch Kioskbetreiberin Valora hätte nach einem Ja zur Initiative Handlungsbedarf. Das Familienunternehmen Spar wiederum hob die Löhne auf 2014 an, sodass es die Mindestlohn-Limite just erreicht. Früher bezahlte Spar Ungelernten 3600 Franken.
Löhne nicht offengelegt
Daneben existieren auch Händler, welche ihre Löhne nicht offenlegen wollen, wie etwa Otto's. Eine grosse Unbekannte sind zudem die Saläre bei freien Detaillisten sowie Betreibern, die ihre Geschäfte Volg, Spar, Migrolino, Coop Pronto oder Denner nennen, aber auf eigene Rechnung arbeiten. Von diesen sogenannten Franchisenehmern und Partnern gibt es Hunderte in der Schweiz. Über deren Lohnpolitik ist wenig bekannt. Die Namens- und Konzeptgeber sagen, sie würden die Lohnhöhe zwar empfehlen, hätten aber keinen Einfluss darauf. «Wir sind für die Lohngestaltung der einzelnen Franchisenehmer und selbstständigen Partner nicht verantwortlich», heisst es etwa bei Spar. Viele Partner und private Detaillisten dürften ihren Angestellten aber keine 4000 Franken zahlen. Müssten sie das, wären einige – je nach Lohn- und Preisstruktur – in ihrer Existenz bedroht, sagen Detailhandelsexperten.
Die Tiefstlöhne im Lebensmitteldetailhandel sind in den letzten 15 Jahren um knapp 1000 Franken gestiegen. Bezahlte etwa Coop seinen ungelernten Mitarbeitenden 2001 noch 3000 Franken, sind es heute 3800 Franken. Das entspricht einem Plus von gut 25 Prozent. Bei anderen Marktteilnehmern wie der Migros ist die Entwicklung ähnlich.
Preisbrecher sind Lohntreiber
Die Zunahme hat einerseits mit Gewerkschaftskampagnen zu tun. 1998 lancierte der Gewerkschaftsbund SGB die Kampagne «Keine Löhne unter 3000 Franken». Eine weitere Erhöhung erlebten die Saläre im Verkauf, nachdem die deutschen Discounter das Schweizer Handelsparkett betreten hatten. Aldi und Lidl bekunden heute noch Mühe, Personal zu finden, und versuchen über pekuniäre Anreize, Mitarbeiter anzulocken. Beide bezahlen Angestellten ohne Berufsausbildung 4000 Franken und mehr im Monat. Die hiesigen Händler gerieten unter Druck und mussten nachziehen. Sie senkten die Produktpreise und erhöhten die Löhne – auch wenn sie die 4000-Franken-Grenze bisher nicht durchbrochen haben. Dafür weisen sie gerne auf die unterschiedlichen Gesamtlohnpakete hin – Feriendauer, Pensionskassenbeiträge und Personalrabatt variieren von Händler zu Händler. Discounter etwa kennen keine Zusatzpunkte und -prozente für ihre Mitarbeiter.
Lädelibetreiber Kommisso gewährt seiner Angestellten ebenfalls keinen Einkaufsrabatt. Immerhin darf sie abgelaufene Ware umsonst mitnehmen. Potenzial, einen allfällig höheren Lohn zu kompensieren, müsste er anderweitig suchen. So überlegt er sich, seine Angestellte künftig nur noch im Stundenlohn zu beschäftigen oder ihr das Teilzeitpensum zu reduzieren. Gross sei der Spielraum für Verbesserungen jedoch nicht, so der Unternehmer.
Ob Kommisso nur jammert oder ob er und viele Detaillisten-Kollegen wirklich vor grossen Sparübungen, Ausverkäufen und Schliessungen stehen, hängt letztlich vom Ladenkonzept und von der Lage ab. Adrian Wyss, Geschäftsleiter des Detaillisten-Verbandes Swiss Retail Federation (SRF), jedenfalls sagt: «Viele kleine Geschäfte in Randregionen sind durch die Mindestlohn-Initiative bedroht, wegen der tiefen Wertschöpfung im Detailhandel.» Ein Lädelisterben könne es durchaus geben.
Lädelisterben ist möglich
Dies negieren die Gewerkschaften zwar nicht. Natalie Imboden, Branchenverantwortliche Detailhandel bei der Unia, sagt aber zu einer möglichen Strukturbereinigung, dass es nur noch wenige Tante-Emma-Läden gebe, dort gehe es um wenige Angestellte. Meist handle es sich um die Franchisenehmer national tätiger Detailhändler. «Diese können es sich leisten, anständige Löhne zu zahlen», sagt sie. Auch wenn die grossen Händler selbst nicht direkt Arbeitgeber der betroffenen Angestellten seien. «Denn mit dem Franchising geben sie das Risiko einfach nach unten weiter», kritisiert sie das Konzept.
Die meisten der betroffenen Detailhändler wagen es nicht, offiziell über die Folgen der Mindestlohn-Initiative für ihre Franchisenehmer zu sprechen. Abwarten heisst die Devise. Ihr eigener Umsatz hängt von den Partnern ab. Einzig Denner bezieht Stellung. «Der grösste Teil der Denner-Satelliten erfüllt die Forderung der Initiative», sagt Sprecherin Paloma Martino. Allerdings seien in wirtschaftlich schwachen Gebieten wie dem Tessin, Graubünden, Wallis und teilweise im Kanton Bern tiefere Löhne Tatsache.
«Müssten die Ladenbetreiber bei gleichbleibendem Umsatz höhere Löhne bezahlen, kann das für einige existenzbedrohend sein», so Martino. Anhand von Umsatz- und Kostenstruktur könne Denner abschätzen, wo es kritisch werden könnte. Denner ist deshalb im Austausch mit den Satelliten-Betreibern. Man sei interessiert daran, dass die Dorfläden weiterhin bestehen. «Je nach individueller Situation vor Ort gilt es zu prüfen, ob man den Standort einfach verlieren will.» Wie es mit seinem Standort weitergeht, weiss Kommisso nicht – möglich, dass auch bei ihm ein Grosser in die Bresche springt.