Deutschland und Europa stehen politisch wie wirtschaftlich vor grundsätzlichen Weichenstellungen. Diese lassen sich an zwei Ereignissen festmachen: der Neuwahl des Deutschen Bundestags am 18. September sowie der erfolgten Übernahme der EU-Präsidentschaft durch Tony Blair am 1. Juli 2005.
Die Richtungsentscheidungen, um die es für die EU und für Deutschland geht, lauten: Wollen wir die Herausforderungen der Globalisierung – natürlich mit klaren Wettbewerbsregeln – sowie der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, welche die traditionelle Industriegesellschaft ablöst, annehmen?
Oder wollen wir es uns weiterhin im kuscheligen Netz des – allerdings unbezahlbaren – Wohlfahrts- und Schuldenstaates bequem machen und die nächste Generation dafür zahlen lassen?
Rational denkenden Bürgern ist dabei ebenso wie Wirtschaftswissenschaftlern und Unternehmen klar: Nur wenn wir uns den Problemen der Zeitenwende und der Globalisierung offen stellen, werden wir es – unter Hinnahme von vorübergehenden Besitzstandsverlusten – weltweit wieder an die Spitze des Wirtschafts- und Wohlstandswachstums schaffen, inklusive Vollbeschäftigung. Schieben wir die Lösung der anstehenden Aufgaben jedoch weiter vor uns her, werden Deutschland und die Union im weltweiten Wettbewerb weiter zurückfallen.
Allerdings teilen nicht alle Politiker diese Einsichten: So sagte Präsident Chirac erst kürzlich über die EU, «englische Verhältnisse» seien für uns nicht hinnehmbar. Damit wendet er sich gegen Blairs Vorstoss, das europäische Sozialmodell in Anlehnung an das Wirtschaftsmodell Grossbritanniens zu reformieren. Chirac will an den kontinentaleuropäischen Modellen des Wohlfahrtsstaates festhalten und sie gegen eine weitere Liberalisierung verteidigen.
Ähnlicher Meinung sind in Deutschland weite Kreise der SPD. Bezeichnend dafür ist die erst kürzlich losgetretene «Heuschreckendebatte». Auch die Mehrheit der Grünen und vor allem der neuen Linkspartei unter Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, dem ehemaligen Parteivorsitzenden der PDS – Nachfolgepartei der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) in der DDR – halten an Modellen vom Staat als Rundumversorger fest.
Wie stehen angesichts dieser Ausgangslage die Chancen für eine reformtragende Wende in Deutschland ab Herbst 2005?
Zunächst parteipolitisch betrachtet: Der Reformkanzler Gerhard Schröder wird sich wohl von der Politik verabschieden. Für seine rot-grüne Koalition wird es nach heutigem Stand keine Mehrheit geben. Laut Umfragen wird es für maximal 37 Prozent der Stimmen reichen. Und Schröders eigene Partei, die SPD, hat sich mit ihrem richtungslosen «Wahlmanifest» gerade ein weiteres Mal von der Reformpolitik ihres Kanzlers distanziert, der trotz den Widerständen gegen seinen Reformkurs ironischerweise erneut ihren Kanzlerkandidaten stellt.
Also wird es zu einer schwarz-gelben Koalition kommen? Noch sehen die Umfragen sie bei 49 bis 51 Prozent. Täglich wird Lafontaines und Gysis neue Linkspartei allerdings stärker. In Gesamtdeutschland liegt sie den Umfragen zufolge bei bis zu zwölf Prozent, in Ostdeutschland ist sie gar stärkste Partei, noch vor der CDU!
Also wäre, rein mathematisch und zumal die CDU täglich Wähler verliert, auch eine grosse Koalition möglich. Allerdings dürfte die SPD, programmatisch und personell erschöpft wie sie ist, in dieser grossen Koalition nur die Rolle des Juniorpartners spielen. Es wird sehr auf das Regierungsprogramm der CDU und auf die Führungsstärke ihrer Kanzlerin Angela Merkel ankommen, bei Schwarz-Gelb wie bei Schwarz-Rot.
Und in dieser Hinsicht ist die Situation nicht ganz eindeutig, was auch das Wahlprogramm der Union zeigt. Denn man darf ja nie vergessen: Die CDU hat einst nicht nur die soziale Marktwirtschaft, sondern vor allem den deutschen Wohlfahrtsstaat erfunden. Und viele ihrer führenden Kräfte, Ministerpräsidenten und andere prominente Unionspolitiker, halten die soziale Komponente hoch und fürchten Wahlniederlagen in ihren Ländern bei wirklich einschneidenden Reformen. Entsprechend zaghaft fällt das derzeitige Wahlprogramm der CDU aus. Hierzu einige Beispiele:
Richtig wäre es, die Lohnnebenkosten, die in Deutschland heute 44 Prozent der Gesamtarbeitskosten ausmachen, durch eine Reduzierung des Wohlfahrtsstaates auf eine Grundversorgung zu kürzen und diese aus Steuern zu finanzieren, zumal Deutschland mit 21,9 Prozent vom BIP die geringste Steuerquote von allen EU-Staaten aufweist. Deshalb besteht durchaus Spielraum für Steuererhöhungen bei gleichzeitiger Senkung der Sozialabgaben. Dadurch würden die Nettolöhne und damit die Binnennachfrage steigen, während die Bruttolöhne sänken und somit die Exportfähigkeit der deutschen Wirtschaft weiter wüchse. Zugleich würden Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Wohlstand wieder zulegen. Ansätze, aber eben nur Ansätze dazu finden sich im Wahlprogramm der Union.
Die Mehrwertsteuer soll erhöht werden, während die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um zwei Prozent sinken. Aber warum wird nicht die gesamte Erhöhung der Mehrwertsteuer darauf verwendet, die Lohnnebenkosten zu vermindern? Ein erheblicher Beitrag soll stattdessen der Sanierung der Landeshaushalte dienen.
Durch die Einführung einer Gesundheitsprämie hätten die Lohnnebenkosten ursprünglich von den Gesundheitskosten entkoppelt werden sollen, was die Arbeitskosten laut Angela Merkel um bis zu 14 Prozent entlasten würde. Inzwischen kam es zu einem verwurstelten Kompromiss mit der CSU, dessen Auswirkungen auf Arbeitskosten wie auf Steuern keiner mehr überblickt.
Steuerprivilegien für die Reichen in Höhe von drei Milliarden Euro sollen richtigerweise gestrichen werden. Ausserdem soll ab 2007 der Einkommenssteuersatz auf 12 bis 39 Prozent sinken. Warum aber nicht gleich eine radikale, einfache und transparente Steuerreform durchführen, alle Ausnahmetatbestände und Subventionen streichen sowie die Staatsausgaben kürzen, wie die CDU es auf ihrem Leipziger Parteitag im Herbst 2003 beschlossen hat?
Schliesslich sollen die Unternehmenssteuern auf 22 Prozent Körperschaftssteuersatz – die SPD schlägt 19 Prozent vor – gesenkt werden. Das bringt wenig, denn mit dann 36 Prozent Steuerbelastung inklusive Gewerbesteuer werden die Unternehmen in Deutschland immer noch die höchsten Steuern in Europa bezahlen. Dazu soll auch noch die Steuerfreiheit für Veräusserungsgewinne bei Beteiligungsverkäufen wegfallen, was die notwendigen Restrukturierungsanreize in der Deutschland AG weiter reduziert. Deutschland büsst so auch als Holdingstandort einen weiteren Vorteil ein.
Durch eine – bescheidene – Einschränkung des Kündigungsschutzes, durch Lohnsubventionen und betriebliche Bündnisse für Arbeit will die Union Beschäftigung schaffen. All diese Massnahmen sind richtig, werden aber durch die Rücknahme einzelner Teile des auch von der Union verabschiedeten Programms Hartz IV, das gerade Erfolge zu zeitigen beginnt, sowie durch steigende Lohnzusatzkosten konterkariert.
So liessen sich noch viele Halbheiten im jetzigen Unionsprogramm anführen, nicht nur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Begründet werden diese mit der Unbezahlbarkeit konsistenter Reformen angesichts der angespannten Haushaltslage von Staat und Sozialversicherungen. Das müsste aber nicht so sein, wenn das Unionsprogramm radikale Kürzungen für Staatsausgaben und Subventionen vorsähe. Diese aber sucht man leider vergebens.
So bleibt auch das Unions-Programm ein Programm Schröder plus oder Agenda 2010 plus – eine radikale Weichenstellung, die Deutschland bräuchte, um wieder jährlich drei Prozent Wachstum zu erzielen, ist es nicht. Aber hat Angela Merkel Anfang 2005 nicht den klassischen Satz geprägt: «Wachstum braucht Freiheit»? Das klingt gut. Das klingt nach Ludwig Erhardt.
Bleibt also die Hoffnung, dass eine Kanzlerin Merkel sich mit Hilfe der FDP nach dem 18. September in einer von ihr geführten Regierung über Bedenken ihrer eigenen Partei und deren Kompromissprogramm hinweg- und durchsetzt. Dann hätte Deutschland tatsächlich wieder die Chance auf einen Spitzenplatz. Zugleich könnte sich auch Europa mehr in Richtung Marktwirtschaft öffnen – nämlich dann, wenn Tony Blair sich bei seinen Reformbemühungen der EU auch auf Angela Merkel und ab 2007 auf Nicolas Sarkozy stützen könnte. Denn bislang stellen vor allem die Kleinen und die Beitrittsländer der EU den Chor der Fürsprecher marktwirtschaftlicher Reformen.
Für die Schweiz ist ein Erfolg marktwirtschaftlicher Reformen in Deutschland und EU essenziell, denn das Exportvolumen, das zum grössten Teil nach Deutschland und in die EU geht, würde von den reforminitiierten Wachstumsimpulsen profitieren. Von solchen Trends relativ unberührt bleiben jedoch die in der Schweiz ansässigen multinationalen Konzerne: Stagnieren Deutschland und die EU, werden sie sich erfolgreich auf anderen internationalen Wachstumsmärkten bewegen, zum Beispiel in Asien oder den USA. Und die Wirtschaftsmacht Europa büsst so in ihrem Zentrum einen weiteren wichtigen Spieler ein. Schade für die EU, aber kein Grund für die Schweiz, ihre politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit aufzugeben.
Roland Berger (67) ist Aufsichtsratsvorsitzender und Gründer der gleichnamigen Unternehmensberatung. Berger berät sowohl Politiker der SPD wie auch der CDU/CSU in wirtschaftspolitischen Fragen.