Fehler im Lebenslauf, ein erfundenes Studium oder übertriebene Jobtitel lassen sich in einem Bewerbungsprozess relativ leicht aufdecken. Viel schwieriger ist die Enttarnung von kleinen oder grossen Lügen in längeren Texten wie Anschreiben oder Motivationsschreiben. Während man früher kaum Möglichkeiten hatte, hier eine unabhängige Analyse abseits des eigenen Bauchgefühls durchzuführen, hat sich die Situation geändert. Sprachanalytische Instrumente und Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) sollen den Bewerber auch in seinen Texten und Äusserungen analysieren.
Schon bald könnte dieses Thema in der Schweiz neuen Schwung bekommen. Die Zürcher Firma 1-Prozent, die mit der Precire-Analysetechnologie arbeitet, ist im Gespräch mit einer grossen Schweizer HR-Plattform, um Motivationsschreiben und Stelleninserate zu analysieren. «Ein Navigationssystem hat über Jahre gelernt, sich immer besser zu orientieren, und ist heute äusserst präzise. Eine vergleichbare Entwicklung zeigt die künstlich intelligente Technologie Precire. Sie analysiert Sprache und trifft daraus Ableitungen über die dahinterliegende Psychologie einer Kommunikation», erklärt 1-Prozent-Chef Stephan Siegfried. «Sie entschlüsselt und erkennt mittels Algorithmen die in der geschriebenen oder gesprochenen Sprache wiederkehrenden Muster, welche Rückschlüsse auf Verhalten und Einstellungen eines Individuums ermöglichen.»
Sprachliche Bausteine
Die Algorithmen zerlegen dabei die Äusserungen, beispielsweise eines Bewerbers, in eine Vielzahl sprachlicher Bausteine und gleichen diese mit den Messwerten einer grossen, repräsentativen Referenzgruppe ab. Auf Basis dieser Muster ergeben sich laut Siegfried Aussagen darüber, wie positiv, empathisch oder unmotiviert ein Text in Wirklichkeit ist.
Ganz neu ist der Einsatz von Analysesoftware bei Bewerbungen nicht. 600 Grossunternehmen wie der Lebensmittelkonzern Unilever, die Banken JP Morgan Chase und Goldman Sachs sowie der Sportartikelhersteller Under Armour nutzen künstliche Intelligenz in ihren Einstellungsverfahren. Das Unternehmen Unilever hat seit Ende 2016 schon 450 Stellen auf diese Weise besetzt. «Das Feld ist heiss umkämpft», sagt Josh Bersin von Bersin by Deloitte, der aufs Personalwesen spezialisierten Tochter der Unternehmensberatungsfirma Deloitte.
Das Geschäftsfeld nennt sich People Analytics. Rund 75 Startups entwickeln entsprechende Programme, wollen ein Stück vom Kuchen des 100 Milliarden Dollar grossen digitalen Assessment-Markts im Personalwesen haben. Bei manchen Anbietern wird etwa der Gesichtsausdruck von Bewerbern bei Videointerviews analysiert, andere beziehen sich auf Sprachanalyse – wie eben mit der Precire-Technologie.
Der Einsatz von Methoden künstlicher Intelligenz (KI) bei der Auswahl von Bewerbern bewegt sich in einer rechtlichen Grauzone. Bestehende Datenschutzgesetze beziehen sich nicht explizit auf KI-Techniken.
Sparringspartner Eine Einstellungsentscheidung sollte sich nie ausschliesslich auf Daten und Empfehlungen der KI-Software stützen. KI ist nur ein Sparringspartner für den Recruiter.
Information Jeder Bewerber muss über den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Analysesoftware bei seiner Bewerbung informiert werden.
Datenschutz Nach Abschluss des Bewerbungsprozesses müssen Daten von Bewerbern unkenntlich gemacht und auf Wunsch des Bewerbers auch gelöscht werden. Eine Weiterverarbeitung ist rechtlich heikel.
Opt-out Bewerber können darauf bestehen, dass KI bei ihrer Bewerbung nicht angewandt wird. Das darf ihre Chancen im Bewerbungsprozess in keinem Fall verringern.
Korrelationen finden
Der Einsatz dieser Sprachanalyse beschränkt sich aber nicht nur auf das Personalwesen: Mittels KI-Technologie können grundsätzlich Kommunikationsmassnahmen aller Art auf ihre gewünschte Wirkung hin analysiert werden. Im Marketing lässt sich dies an vielen Stellen des Unternehmens einsetzen – überall dort, wo es darum geht, wirksam und relevant zu kommunizieren. In der Kundenkommunikation bietet die KI-Technologie beispielsweise die Grundlage für die Segmentierung und individualisierte Ansprache von Kundengruppen und unterstützt relevante und wirksame Kundentypen herauszuarbeiten. Auf diese Weise könnten sämtliche Kommunikationsmassnahmen in Sprache und Form besser auf die einzelnen Kundengruppen abgestimmt werden, so Siegfried. Zielgruppen können präziser angesprochen, Produktplatzierungen nachjustiert werden. Auch können relevante psychologische Erkenntnisse aus der Analyse der Kundenzufriedenheit in den sozialen Medien abgeleitet werden. Auf diese Weise lässt sich Feedback zur Produktentwicklung und -bewerbung gewinnen. «Sie können dabei helfen, wichtige Marketingkennzahlen wie Response Rate oder Conversion Rate zu verbessern», so Siegfried.
Ein weiteres Anwendungsfeld ist die Content-Analyse von Website, Social Media, Broschüren, Medienmitteilungen, Werbekampagnen und so weiter. Die dabei transportierten Botschaften können analysiert und auf ihre gewünschte Wirkung beim Empfänger optimiert werden. Weiter kann im Monitoring von sozialen Medien rechtzeitig ein Shitstorm identifiziert und beruhigt werden, bevor er Fahrt aufnimmt. Falsche Entwicklungen lassen sich reduzieren, indem sie schneller und zuverlässiger erkannt werden.
Die HR-Anwendungsgebiete liegen wie erwähnt in der Personalauswahl und -entwicklung. Und hier lässt sich natürlich nicht nur der konkrete Auftritt oder Text in einem Bewerbungsprozess analysieren, sondern auch das ganze Drumherum lässt sich mittels KI auf mögliche Korrelationen abklopfen. Denn bei Big Data und künstlicher Intelligenz im Personalwesen geht es auch darum, Zusammenhänge herauszufinden, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Der Algorithmus des KIAnbieters Cornerstone On Demand etwa fand heraus, dass herausragend gute Mitarbeitende ihre Fragebogen nicht auf dem vorinstallierten Browser ihres Computers beantwortet hatten. Auch hatten sie 19 Prozent weniger Fehlzeiten, dazu verkauften sie signifikant mehr in kürzerer Anrufzeit. Wer Firefox oder Chrome nutzte, blieb 15 Prozent länger seinem Job treu als jemand, der die Standardbrowser Safari oder Internet Explorer nutzte. Die Logik: Wer sich die Mühe macht, aktiv einen Browser zu installieren, ist auch sonst engagierter. Allerdings wurde diese Korrelation nie im Algorithmus von Cornerstone eingebaut, aus Sorge, sie würde als Altersdiskriminierung ausgelegt und könnte zu Klagen führen.
Rechtlich heikel
Ist der Einsatz von KI-Analysen bei Bewerbungsschreiben oder Bewerbungsgesprächen rechtlich unbedenklich? Immerhin könnten sich abgelehnte Kandidaten über Diskriminierung beklagen oder den Faktor KI als unzulässig im Bewerbungsprozess ablehnen.
Wichtig ist, dass alle Bewerber vorgängig über die Analyse informiert werden müssen. Im Sinne des Datenschutzes sowie der Gleichberechtigung ist in jedem Fall den Kandidatinnen und Kandidaten transparent darzulegen, welche Daten während der Bewerbung erhoben werden und wofür die Organisation diese verwendet. Wichtig ist, dass nach Abschluss des Bewerbungsprozesses die Daten auf Wunsch gelöscht werden. Wenn jemand auf ein herkömmliches Bewerbungsverfahren besteht, ist dies zu akzeptieren und muss ohne Nachteil auf die Aussichten einer Anstellung sein.
«Die eingesetzten Technologien nutzen Algorithmen, mit welchen die Daten unter Hinweis und Berücksichtigung der geltenden gesetzlichen Datenschutzbestimmungen aufbereitet werden», sagt Stephan Siegfried. Künstliche Intelligenz sei im Grunde nur Sparringspartner für den Recruiter. Allein KI, aber auch allein Bauchgefühl führt seiner Meinung nach nicht zu optimalen Ergebnissen.
Die Precire-Analysetechnik wird in der Schweiz bereits genutzt.