Einfach war es nicht. Ihre griechischen Eltern liessen Despina Solomonidou nur ungern ziehen, als sie in den Achtzigerjahren nach Deutschland ging, um Pharmazie zu studieren. «Sie taten sich schwer damit, dass ich mit den traditionellen Rollenvorstellungen brach, doch ich liess mich nicht abbringen», sagt sie.

Zum Glück ermutigte sie ihr Schuldirektor, ihren Traum zu verwirklichen. Heute, mehr als 25 Jahre später, ist sie Head of Pharmaceutical Development bei Novartis und eine der wachsenden Zahl von Frauen, die es in der Pharmaindustrie weit nach oben schaffen. Mehr als 40 Prozent der Kaderangestellten von Novartis und Roche sind mittlerweile weiblich, bei einem Frauenanteil von gesamt fast der Hälfte.

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Mehr Frauen auf allen Karrierestufen

Die Pharmaindustrie wird also immer femininer – und das auf allen Stufen. Mehr noch: Frauen machen nicht mehr nur in klassischen Frauendisziplinen wie Kommunikation oder Human Resources Karriere; immer häufiger sind sie dort, wo ein naturwissenschaftlicher Hintergrund nötig ist. In Forschung & Entwicklung (R&D), einer Disziplin, in dem Roche und Novartis jedes Jahr um die 10 Milliarden ausgeben und eine klassische Männerdomäne obendrein, liegt der Frauenanteil bei beiden Unternehmen deutlich über 50 Prozent.

Besonders bemerkenswert: Bei Roche sind hier noch mehr Kadermitglieder als im Durchschnitt weiblich, nämlich 50 Prozent. Bei Novartis werden führende Forschungsfunktionen immerhin zu einem Drittel von Frauen ausgeübt. Mehr noch:  Frauen erschliessen sich ausserhalb von R&D Kaderpositionen, bei denen ein naturwissenschaftlicher oder technischer Hintergrund Voraussetzung ist.

Wandel im Top-Management wirksam

Es sei lange schwierig gewesen, Frauen mit einem MINT-Hintergrund (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) für Kaderstellen zu finden, heisst es bei Novartis. «Doch das ändert sich gerade» – ein Wandel, der auch im Top-Management wirksam werde, wo der Frauanteil mittlerweile bei 25 Prozent liege. Es bewegt sich etwas – und das aus gutem Grund: In der Pharmaindustrie sei Diversität – also die Integration beider Geschlechter und verschiedener Kulturen – wie kaum in einer anderen Industrie Teil des Geschäftsmodells geworden, sagt Simone Stebler, Executive Search Consultant bei Egon Zehnder. «Das zeigt nun Wirkung».

Ihre Arbeitskollegin Gaëlle Boix, eine Physikerin mit Promotion am Cern in Genf und Erfahrung bei McKinsey, sagt: «Die Industrie hat erkannt, dass sie im Wettstreit um die besten Talente nur bestehen kann, wenn sie das Potential der Frauen erschliesst». Deshalb tue sie alles, um die Frauen bei der Stange zu halten. Und noch etwas spiele eine Rolle: die Feminisierung der Medizin. «Wenn die Stakeholder, also zum Beispiel die Ärzte, zunehmend weibliche Personen sind, dann empfielt es sich nicht, wenn sie hauptsächlich mit Männern auf der industriellen Seite konfrontiert werden». 

Recruiting-Technik verhindert Vorurteile

Diversität als Geschäftsmodell: Die Pharmaindustrie macht Ernst. Vielfalt und Inklusion seien ein «entscheidender Katalysator» für Innovation, heisst es bei Roche. Die Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen gehört deshalb zu den globalen strategischen Zielen. Roche strebe nach Vielfalt bei der Auswahl von Führungspersönlichkeiten und nutze Technologien, «um geschlechtsspezifische Voreingenommenheit in Stellenausschreibungen und im Rekrutierungsprozess zu vermeiden».

Zudem würden Führungskräfte in Schulungen darauf sensibilisiert, «unbewusste Voreingenommenheit zu vermeiden». Diversität – nicht mehr nur als Wunsch, sondern als Muss, um erfolgreich zu bleiben: In die gleiche Richtung geht es bei Novartis, wo die Erhöhung des Frauenanteils ebenfalls  ein wichtier Baustein der Strategie ist, wie das Unternehmen schreibt. 

Weniger Hierarchie in der Pharmabranche 

Die Unternehmen tun viel –  auch auf institutioneller Ebene. Roche bietet professionelle Netzwerke für Frauen an, um die Verbreitung von Best Practices weltweit zu fördern. Novartis verfügt über verschiedene Netzwerke, die den Austausch von Mitarbeiterinnen fördern. Das Female Leadership Programm bringt regelmässig Frauen aus 40 Ländern zu Anlässen nach Basel zusammen. Seit 10 Jahren gibt es WIN (Women into Industry), ein Mentoringprogrammn, mit dem Novartis in Zusammenarbeit mit der Uni Basel junge Akademikerinnen für eine Laufbahn in der Industrie zu gewinnen versucht – eine Win-Win-Situation.

Die beiden Unternehmen lassen nichts unversucht. Bei Roche gibt es Jahresarbeitszeiten, Teilzeitmodelle, Job-Sharing, Arbeiten von zu Hause und Kinderbetreuung, Novartis bietet Haushalthilfen und Hilfe bei der Pflege von kranken Angehörigen.

Dazu kommt, dass sich die Industrie zu Gunsten der Frauen verändert. Die Pharmaindustrie ist weniger hierarchisch geworden – zwangsläufig, denn in einem wissenschaftlichen und technologischen Umfeld, in dem jeden Tag neue Erkenntnisse dazu kommen und scheinbar Selbstverständliches über den Haufen geworfen wird, lässt sich das Konzept des allwissenden Chefs nicht mehr halten. 

«Ich hatte ausgezeichnete Mentorinnen»

Frauen seien «pretty good», wenn es darum gehe, sich in einem ständig verändernden Umfeld zurecht zu finden, sagt Ann Costello, Head of Roche Tissue Diagnostics; eine Funktion, die nur zwei Stufen unterhalb derjenigen von Diagnostics-Chef und Geschäftsleitungsmitglied Roland Diggelmann angesiedelt ist. Auch ihr war es, wie Despina Solomonidou, nicht in die Wiege gelegt, Karriere zu machen. In Irland aufgewachsen und von Haus aus Biochemikerin, begann sie ihre Laufbahn in einem irischen Krankenhauslabor, bevor sie mit ihrem Mann nach Basel zog und vor dreissig Jahren bei Roche anfing. «Mein Glück war, dass ich eine ganze Reihe von ausgezeichneten Mentorinnen und Mentoren hatte», sagt sie.   

Das Tempo der Veränderung und die flacheren Hierarchien kämen den Frauen entgegen: Das ist immer wieder zu hören – auch wenn die Gesprächspartnerinnen geschlechtsspezifische Zuordnungen scheuen. Manuela Ebbinghaus, promovierte Chemikerin und Teamleiterin in der Entwicklungsabteilung  von Novartis sagt es so: «Der Führungsstil ist keine Frage des Geschlechts und von flacheren Hierarchien profitieren Männer wie Frauen, jedoch fühlen sich vermutlich viele Frauen in dieser Struktur eher daheim als in einer klassisch hierarchischen Struktur.»

Fachliche und soziale Kompetenzen zählen

Frauen als Selbstverständlichkeit auf allen Etagen: In der Pharma scheint sich das Ideal zu realisieren. Mann oder Frau? Das sei für sie keine Frage mehr, wenn es darum gehe, ein Mitglied fürs Team zu rekrutieren, sagt Nadia Laouar, Chemikerin und Managerin und  in der Entwicklungsabteilung von Novartis für die Aufbereitung der aus der Forschung kommenden Wirkstoffe für die klinischen Studien verantwortlich. «Ich nehme Kollegen und Mitarbeitende nicht als Mann oder Frau wahr, allein die fachlichen und sozialen Kompetenzen sind ausschlaggebend bei Personalentscheidungen», sagt Astrid Kiermaier.

Die promovierte Molekularbiologin ist bei Roche in der Forschung tätig, als Teamleiterin im Bereich personalisierte Medizin – ein Feld, auf das die Konzernleitung unter Severin Schwan grosse Hoffnungen setzt. Ziel ist es, im Gewebe oder im Blut Marker zu finden, die für den Heilungserfolg von Krebsmedikamenten bei bestimmten Patientengruppen oder beim individuellen Patienten entscheidend sind. Astrid Kiermaiers Team besteht übrigens zu zwei Drittel aus Frauen.

Wenige Frauen in der Chefetage – auch bei den Pharmafirmen

Bleibt die Frage, was noch bleibt. Ganz oben ist die Luft noch immer dünn für Frauen. Auch wenn die Ernennung von Emma Walmsley zur Konzernchefin von GSK im vergangenen Jahr ein Durchbruch ist. Sie ist die erste Frau an der Spitze eines forschungsorientierten Pharmaunternehmens. Es habe sich viel getan, sagt Ann Costello von Roche, die gläserne Decke sei sicherlich aufgebrochen, «aber wir müssen uns weiter darauf konzentrieren, den Frauenanteil zu erweitern und Frauen dabei zu unterstützen, Führungsrollen zu übernehmen».

Beraterin Simone Stebler spricht von einer «unbewussten Voreingenommenheit», einem Bild, wonach eine Führungspersönlichkeit männlich, weiss oder höchstens asiatisch sei. «Bei den Geschäfstleitungen gibt es noch eine Menge zu tun», sagt ihre Kollegin Gaëlle Boix. Die Fortschritte seien zwar da; aber sie habe grosse Zweifel, dass sich die Dinge im Laufe der Zeit von selbst ändern würden. «Es bedarf einer Bewusstseinsänderung. Solange das nicht passiert, stagniert der Prozess».   

Daran, dass sich die Frauen aufgrund ihrer Sozialisation selbst im Weg stehen, scheint es nicht mehr zu liegen. Es sei selten, dass sie bei einer Kandidatin denke: typisch weiblich, sagt Gaëlle Boix. Dass jemand zurückhaltend sei oder dazu neige, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, komme bei Kandidatinnen und Kandidaten gleichermassen vor, sagt die Executive Search Consultant. 

Ann Costello von Roche rät jungen Frauen, die am Anfang ihrer Karriere stehen, sich möglichst breit aufzustellen und nicht nur Expertin in einem einzigen Bereich zu sein; sich Ziele zu setzen und diese auch selbstbewusst zu verfolgen. Wichtig sei, dass man den Mut habe, traditionelle Modelle zu durchbrechen, sagt Despina Solomonidou von Novartis. Sie empfiehlt jungen Kolleginnen, die Herausforderung zu suchen und eigene Grenzen auszutesten, um sich weiter zu entwickeln.  «Ohne Mut geht es nicht».  Die beiden jungen Teamleiterinnen Manuela Ebbinghaus und Nadia Laouar sagen auf die Frage, was sie einer Studienabgängerinen raten würden, die sich mit dem Gedanken an eine Karriere in der Industrie tragen: «Just do it».