Im Zusammenhang mit dem digitalen Wandel wurde in den letzten Jahren in vielen Unternehmen bereits das Ende des Chefs verkündet. Stattdessen war plötzlich überall von Agilität die Rede, der neuen partizipativen Führungsstruktur des 4.0-Zeitalters. Die agilen Arbeitsund Führungsmethoden verbreiteten sich vor allem dort am stärksten, wo sie entstanden sind, nämlich in den IT- und Hightech-Entwicklungslabors im kalifornischen Silicon Valley.

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Doch wirklich durchgesetzt haben sie sich in Palo Alto offenbar noch nicht. Zu diesem Schluss kommt der deutsche Personalmanager Felix Berghöfer, der mit dreissig Führungspersonen im IT-Mekka darüber gesprochen hat. Alle gaben ihm zu Protokoll, in ihren Unternehmen allein zu entscheiden und sämtliche Prozesse streng hierarchisch zu dirigieren. Die Führungsaufgabe der mittleren Kader beschränke sich darauf, die Befehle nach unten durchzugeben und deren Umsetzung zu kontrollieren.

In der Schweiz sind Kurse zum Thema Leadership 4.0 ausgebucht.

Agile Arbeitsformen in einem Drittel der Schweizer Firmen

Etliche dieser Firmenchefs, denen Berghöfer begegnete, hatten zwar einschlägige Erfahrungen mit agilen Führungsmethoden. Doch fast alle waren sie mittlerweile wieder zum traditionellen Modell zurückgekehrt. Diesen Schritt zurück begründeten sie mit dem Argument, dass im agilen Unternehmen keiner wirklich verantwortlich sei, schnelle Entscheidungen unmöglich und langatmige Diskussionen zwecks Konsensfindung an der Tagesordnung seien.

Trotzdem, so der einstimmige Tenor der IT-Gurus, liege Agilität im Silicon Valley weiterhin im Trend. Allerdings sind ihr die Flügel gestutzt geworden, sodass sich Agilität nun auf Arbeitsmethoden und auf Teams beschränkt, die von oben angeordnete Projekte umzusetzen haben.

Innerhalb dieses Rahmens können Mitarbeitende so weit frei, flexibel, kreativ und agil handeln, wie es zur strikten Erledigung der Aufgabe beiträgt. Entspricht die Leistung des Einzelnen jedoch nicht den Erwartungen, wird im Silicon Valley energisch durchgegriffen. Die Schonfrist, welche die Vorgesetzten in diesem Fall gewähren, nennt sich Performance-Improvement-Plan. Vier Wochen hat dann ein Mitarbeitender Zeit, sich zu verbessern und die Ziele doch noch zu erreichen. Schafft er es nicht in dieser Zeitspanne, wird er entlassen, dies bei einer gesetzlichen Kündigungsfrist von zwei Wochen. Angesichts dieses Leistungsdruckes überrascht es nicht sonderlich, dass die Firmen im Silicon Valley mit einer hohen Fluktuationsrate zu kämpfen haben.

Im Durchschnitt halten die Mitarbeitenden den Unternehmen ein bis zwei Jahre die Treue, um sich dann – oft nicht freiwillig – anderswo neu zu orientieren. Der Retrotrend in Sachen Leadership und Führung, der sich in den amerikanischen IT-Konzernen beobachten lässt, ist bisher noch nicht nach Europa und in die Schweiz übergeschwappt. Bei uns jedenfalls sind Managementvorträge zu Themen wie Agilität und Leadership 4.0 weiterhin ausgebucht, so etwa diejenigen von Thomas Zweifel. Der Leadership-Theoretiker, Ökonom und Politologe, der an der Universität St. Gallen und an der Columbia University (New York) lehrt, ist überzeugt, dass autoritäre Führung von oben herab «völlig bankrott ist». Führung bedeute vielmehr, andere zu befähigen, ihre Ziele zu erreichen.

Und wenn Chefs von ihren Visionen reden würden, meinten sie damit meist bloss die Wachstumskurve des eigenen Geschäftes. Laut Zweifel liegt eine echte Vision irgendwo «zwischen Voraussage und Traum und zwischen dem für die Zukunft Wünsch- und Machbaren».

Die Techniken agiler Führungs- und Arbeitstechniken sind in der Schweiz inzwischen relativ weit verbreitet. Laut einer Studie des IFPM der Universität St. Gallen nutzt heute ein Drittel der Schweizer Unternehmen agile Arbeitsformen. «Wir setzen im Projektportfolio seit längerem auf agile Arbeitsmethoden und bauen deren Einsatz laufend weiter aus», erklärt Susanne Maurer, Sprecherin der Mobiliar. Beim Versicherungskonzern gehören auch Agilitätstrainings für Führungspersonen zum Programm.

Wie Scrum, Kanban und Co. funktionieren

Kanban Eine Methode, um Arbeit in Teams zu organisieren. Sie erhöht die Transparenz im Team, limitiert parallele Arbeit und macht Engpässe sichtbar. Damit hilft sie, Durchlaufzeiten zu verringern. Häufig arbeiten Teams mit einem Kanban-Board, an dem Ticktes mit Aufgaben sogenannte Signalkarten darstellen. Signalkarten wandern von Bearbeitungsphase zu Bearbeitungsphase.

Design Thinking Darunter versteht man die Anwendung von Methoden, Gestaltungskriterien und Denkprozessen des klassischen Designs in allen Bereichen eines Unternehmens oder einer Organisation. Ziel ist, dabei eine kreative, nicht lineare, iterative und interaktive Denkweise zu etablieren.

Scrum Eine tyische agile Entwicklungsmethode. Die Entwicklung wird in Iterationen organisiert, die man in Scrum «Sprints» nennt. Eine gleichmässige Sprintlänge gibt dabei dem Team einen Rhythmus. Ein Sprint dauert maximal vier Wochen. Mit Scrum liefert ein Team ein potenziell nutzbares Produkt Stück für Stück. Anforderungsänderungen fliessen kontrolliert in das Projekt ein. Damit werden frühe Lieferungen erreicht.

Scrumban Die Kombination der beiden Methoden Scrum und Kanban. Meist wird diese Technik eingesetzt, wenn Teams mit der Scrum-Methode überfordert sind. Kanban bringt mehr Struktur.

Devops Ein Überbegriff, der die Kollaboration von zwei Abteilungen (im Fall des Begriffspaares sind das Development, also Softwareentwickler, und Operations, also IT-Systemadministratoren) beschreibt. Mit vereinheitlichten Bewertungskriterien und automatisiertem Austausch sollen Silos aufgebrochen werden.

QUELLEN: ATLASSIAN.COM, WIBAS.COM

Nur 10 Prozent der Chefs nutzen neue Methoden

Die CSS baute agil strukturierte Teams zuerst in der Softwareentwicklung und der HR-Beratung auf. Diese arbeiteten so erfolgreich, dass die neue Methode gegenwärtig auf weitere Bereiche ausgeweitet wird. CSS-Sprecher Luc-Etienne Fauquex erklärt: «Der Trend bei uns geht in Richtung transformationale Führung, also die Inspiration der Mitarbeitenden mittels verinnerlichter Ziele und Visionen.»

Was immer das heissen mag, klarzustellen bleibt, dass sich auch in der Schweiz die Agilität in den meisten Unternehmen auf Arbeitsmethoden und bestimmte Teams beschränkt, ohne die oberen Führungsebenen wirklich zu tangieren. Firmen, die nicht bloss ein wenig, sondern konsequent agil geführt werden, lassen sich an einer Hand abzählen. Die Agilitätsquote im eigentlichen Management von mittleren und grösseren Unternehmen liegt laut IFPM-Studie unter 10 Prozent.

Der deutsche Managementberater Jens Knese kann das durchaus nachvollziehen und sagt: «Agile Führung ist vielleicht gut in einer Phase der Veränderung. Es gibt aber bei aller Transformation auch Prozesse und Phasen der Stabilität und Konstanz.» Folglich benötige jedes Unternehmen beides, also eine Organisation mit klaren Prozessstrukturen, Hierarchien und Entscheidungswegen sowie eine Organisation für die Agilität, mit interdisziplinären Teamstrukturen, Risikobereitschaft und Design-Thinking-Projektteams. Er spricht dabei der Credit Suisse aus dem Herzen, die laut Sprecherin Gérianne Cruz drei Viertel ihrer IT-Projekte im «agilenModus» durchführt. Und was ist mit dem Begriff «agiler Modus» ganz genau gemeint? «Wir sind der Auffassung, dass es bei Agilität um eine bestimmte Denkart und Haltung geht und weniger um Modelle oder Vorgehensweisen», sagt Cruz.

Nochmals anders interpretiert die Axa Schweiz die Agilität. Drei Viertel jener Teams, die sich mit Veränderungsprozessen befassen, sind dort heute bereits agil strukturiert. Die agilen Arbeitsmethoden würden nun auch auf entwicklungsferne Teams und interdisziplinäre Themen erweitert, verrät Mediensprecherin Michaela Leuenberger und definiert die Axa-Agilität als «Koexistenz von hierarchischer Struktur und Wertschöpfungsstruktur». Luc-Etienne Fauquex bringt gar den Begriff «Ambidextrie» ins Spiel, «das bewusste Zulassen des beidhändigen Managements einer agilen und traditionellen Welt.» Womit der CSS-Sprecher, etwas klausulierter zwar, wohl Ähnliches wie Jens Knese sagt. Ambidextrie ist jedenfalls ein Begriff, der in der letzten Zeit immer häufiger zu hören ist, wenn über das Thema Agilität gesprochen wird.

Wer traditionell und agil führt, nennt sich neuerdings ambidextrisch

Ohne die Führung als Vorbild bringen Experimente nichts

Bei Microsoft Schweiz gehört die Arbeit in agil geführten Teams zum normalen Alltag. «Fixe Strukturen, die streng hierarchisch geführt werden, sind aus unserer Sicht endgültig Vergangenheit», stellt Kommunikationschef Tobias Steger klar. Allerdings muss er einräumen, dass auch die agile Microsoft Schweiz letztlich vom hierarchisch gesteuerten Microsoft Konzern und den Chefs im Nordwesten der USA dirigiert wird.

Für viele Managementexperten ist es denn auch kein Zufall, dass die in Amerika bereits wieder erlahmende Agilitätsbegeisterung einhergeht mit Philosophien, wie sie etwa der Kanadier Jordan Peterson verbreitet, ein rechtsliberaler Psychologe, Politologe und erklärter Streiter wider die Toleranz und politische Korrektheit. Insgesamt hätten autoritäre Führungsstile in der Politik Auftrieb. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis das auch bei den Führungstechniken der Manager ankomme.

Wenn aber die Chefs nicht anfangen, sich für agile Methoden zu öffnen, sind sie in den Firmen wohl auch in Europa eher zum Scheitern verurteilt. Denn im Rahmen einer Studie der ZHAW wurden Führungskräfte und Mitarbeitende nach Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren für den agilen Wandel befragt. «Als Erfolgsfaktor gilt erneut die Vorbildfunktion des Topmanagements. Führungskräfte müssen in den Veränderungsprozess aktiv involviert sein und auch kritische Fragen zum agilen Wandel beantworten», so das Ergebnis. Um eine offene und konstruktive Feedback-Kultur zu etablieren, benötige es eine Vertrauenskultur, um Herausforderungen und kritische Fragestellungen offen ansprechen zu können. Es gelte, Ausdauer und Fokussierung im Veränderungsprozess zu beweisen. «Im organisationalen Lernprozess können die Eigenverantwortung und die Innovationsfähigkeit der Belegschaft gestärkt werden. Agilität sollte nicht als Selbstzweck ohne konkrete Benennung der Zielsetzung eingeführt werden.»

Zu den Misserfolgsfaktoren im agilen Change-Prozess zählten ganz klar die mangelhafte Kommunikation der konkreten Ausgestaltung der Veränderung, die mangelhafte Kommunikation der Sinnhaftigkeit und die Unterschätzung des Zeitfaktors. Ein mangelhaftes Onboarding von Mitarbeitenden im Kickoff beinhaltet die Gefahr, dass Mitarbeitende den Sinn des Wandels nicht nachvollziehen können und Unsicherheiten hinsichtlich der zukünftigen Arbeitsgestaltung entstehen. In diesem Kontext ist es gemäss den Befragten empfehlenswert, frühzeitig Widerstände und Unsicherheiten seitens der Mitarbeitenden offen anzusprechen. Die zunehmende Selbstverantwortung und die damit einhergehenden Herausforderungen, etwa nicht mehr nur blind Befehle zu empfangen, gelte es im organisationalen Lernen zu thematisieren, und Mitarbeitende sollten in der beruflichen Entwicklung unterstützt werden. Wenn aber, wie Daten zeigen, Chefs weiter für sich ausschliessen, mit agilen Techniken zu experimentieren und diese nur auf unteren Ebenen einsetzen wollen, dürfte das mit der Vorbild- und Lehrerwirkung entsprechend schwierig werden.