Herr Heer, darf man Sie ungefragt duzen?
Stefan Heer*: Ich bin als Berater oft an Workshops, wo ich mit einigen Leuten per Du bin. Meistens kläre ich das bei der Vorstellungsrunde: «Wer von mir geduzt werden will, der soll mich duzen.» Früher wäre ich sehr verwundert, hätte man mich ungefragt geduzt, heute nehme ich das eher locker. Denn Duzen oder Siezen ist eigentlich kein Thema mehr.
Wie meinen Sie das?
Früher hat das Sie einen gewissen Status zementiert. Heute hingegen ist das Sie im Arbeitskontext ein Statusmerkmal aus vergangenen Zeiten, das immer unwichtiger wird. Wir sind im posthierarchischen Zeitalter angelangt, wo nicht mehr der Status jemandem Macht und Ansehen gibt, sondern das Argument, das gilt insbesondere innerhalb innovativer Organisationen.
Können Sie das erklären?
Früher pflegte man einen autoritären Führungsstil, Anweisungen kamen vom Chef und wurden vom Mitarbeiter ausgeführt. Das Sie wurde dabei als Instrument benutzt, um Respekt aufzubauen und klare Grenzen zu setzen. Heute hingegen ist Mitarbeiterführung deutlich kooperativer und die Hierarchien flacher. Während früher also eher die Rolle des Anweisungen gebenden Vorgesetzten im Vordergrund stand, festigen heute Führungskräfte ihren Status in der Belegschaft viel stärker durch natürliche Autorität, durch Inhalte und Argumente.
Was hat das mit dem Du zu tun?
Durch die Digitalisierung ist unsere Arbeitswelt sehr dynamisch geworden. Umso wichtiger ist es, dass Entscheidungen schnell und nicht mehr nur von Führungspositionen getroffen werden können. In so einem Umfeld werden Hierarchien, die durch ein Sie aufrechterhalten werden, zum Hindernis für effizientes Arbeiten.
Siezen in Unternehmen ist also nicht mehr zeitgemäss?
Es nimmt auf jeden Fall ab. Noch immer wird in vielen Unternehmen gesiezt, aber es gibt inzwischen mehr Firmen, in denen geduzt wird.
Woran liegt das?
Einerseits natürlich an der Globalisierung und dem Englischen. Die Kultur hat sich geändert: Junge Leute duzen und wollen geduzt werden. Zudem kommt es in Unternehmen, in denen noch gesiezt wird, häufig zu Spannungen, wenn der Chef die einen Mitarbeiter duzt und die anderen nicht. Wenn, muss es einheitlich sein.
Also am besten gleich eine Duz-Kultur einführen?
Das wäre das Beste. Doch vielen älteren Mitarbeitern, die sich das Du vom Chef über Jahre und mehreren Hierarchien hinweg hart erkämpft haben, fällt das schwer. Wenn diese Währung plötzlich nichts mehr wert ist, kommt das einem Statusverlust gleich. Trotzdem empfehle ich den meisten Unternehmen eine Duz-Kultur.
Warum?
Auf beruflicher Ebene hat das Du eindeutige Vorteile gegenüber dem Sie. Das Du ist ein Angebot von Nähe. Es schafft Zusammengehörigkeit, baut Distanzen, Formalitäten und Hemmschwellen ab, man kommuniziert auf Augenhöhe. Dadurch wird ein partnerschaftliches Klima geschaffen, ein besseres Gemeinschaftsgefühl, das die Teamarbeit stärkt.
Aber steigt mit einer Duz-Kultur nicht die Gefahr, dass der Respekt zwischen Kollegen verloren geht? Es begünstigt schliesslich unangebrachte Sprüche.
Nein, Respekt und Anstand haben nichts zu tun mit der Anrede. Es ist ähnlich wie mit Titeln «Herr Doktor» oder «Herr Ingenieur», eigenen Büros oder Türschildern – solche Statusmerkmale, die früher mal relevant waren, haben zunehmend ausgedient und spielen in der heutigen Arbeitswelt kaum noch eine Rolle. Zudem kann wie im Englischen das You auch das Du sowohl freundschaftlich als auch geschäftlich sein – mal davon abgesehen, dass Kollegen auch per Sie beleidigend sein können.
Christoph Stokar ist selbstständiger Texter und Autor. Sein Buch «Der Schweizer Business Knigge» zeigt gutes Benehmen in der Arbeitswelt auf – sei es im Umgang mit Teamkollegen, Vorgesetzten oder Kunden. Stokar weiss, wann gedutzt werden darf und wo ein Sie angbebracht ist:
Wer im Unternehmen wem das Du anbietet
Grundsätzlich gilt im Berufsleben, dass der Ranghöhere dem Rangniedrigeren das Du anbietet – sprich der Vorgesetzte seinem Mitarbeiter. Dies gilt auch, wenn der Mitarbeiter älter ist. Auf gleicher Hierarchiestufe sind die Dienstjahre im Unternehmen entscheidend. Das Geschlecht spielt dabei keine Rolle. In der Praxis ist es vielerorts so, dass es firmenintern einheitlich geregelt ist. Am ersten Arbeitstag also: Ohren offen halten oder sich erkundigen, wie die Ansprache geregelt ist.
Ein Du darf auch abgelehnt werden
Jedem steht es frei, ein Du abzulehnen, wenn er sich damit nicht wohl fühlt. Entscheidend ist, wie man es ablehnt. Bei einer Absage ist darauf zu achten, dass man den Anbietenden nicht irritiert. Stattdessen sollte man höflich und freundlich vorgehen, zunächst seine Freude darüber ausdrücken und zeigen, dass die Ablehnung nicht persönlich gemeint ist. Eine Begründung ist dabei zwar nicht nötig, kann aber helfen – eventuell mit dem Hinweis beispielsweise, dass man mit dem Sie so gute Erfahrungen gemacht habe und bei dieser Form bleiben möchte.
Wer einmal beim Du ist, der bleibt beim Du
Grundsätzlich ist das so. Manchmal gibt es jedoch ein Duz-Verhältnis für eine bestimmte Zeit, etwa unter Seminarteilnehmern oder beim Betriebssport. Wichtig dabei ist, dass von Beginn an deutlich wird, dass es sich nur um ein temporäres Du handelt, das das Siezen im Berufsalltag nicht ausser Kraft setzt. Mittlerweile wird das aber eher selten so gehandhabt und ist auch etwas befremdlich.
Wie verhalte ich mich als neues Team-Mitglied in einem Unternehmen, in dem sich alle duzen?
Man wird auf diesen Umstand hoffentlich sehr schnell hingewiesen und dann spricht man die Personen auch entsprechend an.
Wie schreibe ich einen Vorgesetzten per Email an, wenn sich im Unternehmen eigentlich alle duzen, ich ihn aber noch nie getroffen habe?
Wenn im Unternehmen die Du-Regel praktiziert wird, dann wird man auch diese Person mit Vornamen ansprechen. Etwas eigentümlich wird das einem nur persönlich vorkommen, die anderen haben sich längst daran gewöhnt.
Einladung zum Meeting per E-Mail, ich duze aber nicht alle Eingeladenen – was tun?
Dann sind die Personen mit Du beziehungsweise mit Sie anzusprechen. Es tönte etwas kompliziert, aber das kann durch eine geschickte Formulierung einigermassen elegant gelöst werden.
Doch fallen unangenehme Personalgespräche oder gar eine Kündigung sicherlich leichter, wenn der Gegenüber gesiezt statt geduzt wird. Das Gespräch wird dadurch weniger emotional.
Gerade bei unangenehmen Gesprächen ist es wichtig, einen Zugang zueinander zu haben. Ich kann mich hinter dem Sie verstecken wie hinter einem dicken Schreibtisch oder einem anderen Statussymbol. Verzichte ich auf diese Distanz, bin ich mehr herausgefordert, auf die Beziehung einzugehen, was einem guten Gespräch dient. Natürlich ist es herausfordernder, wenn man sich duzt und sich nicht hinter dem Sie verstecken kann. Aber die Chance auf ein gutes Gespräch ist höher, wenn ich mich auf das Gegenüber einstelle. Und die Frage ist ja nicht, wie leicht oder schwierig, sondern wie zielführend es am Schluss ist. Was nicht heissen soll, dass man mit dem Sie kein gutes und vertrauensvolles Gespräch führen kann.
Eben. Und eine gewisse Distanz, die durch das Sie geschaffen wird, birgt ja gerade im beruflichen Umfeld auch Vorteile.
Natürlich. Im Beruflichen gilt nicht, je näher desto besser. Ich erlebe viele Vorgesetzte, die eine zu grosse Nähe zu ihren Mitarbeitern haben. Aber es gibt bessere Instrumente, um die Nähe und Distanz zu Mitarbeitern zu regulieren als über die Anrede. Das Du beziehungsweise Sie ist ein sprachliches Instrument, dass Führungskräfte geschickt zur Regulierung verwenden können, aber es ist eben nicht das einzige.
Sie sagten, dass mit einer Duz-Kultur Formalitäten abgebaut und die Zusammengehörigkeit gefördert werden können. Funktioniert das in allen Organisationen gleich gut?
Natürlich muss man jedes Unternehmen für sich betrachten. Was in Start-ups funktioniert, muss nicht zwingend auch in alteingesessenen Unternehmen funktionieren. Gerade diese haben ja meist noch starre Hierarchien und eine traditionsreiche Unternehmenskultur, was sich nicht immer auf Anhieb mit dem Du verträgt. Zugleich verändert das Du die Unternehmenskultur und hat Signalwirkung nach aussen, denn es zeigt, dass es bei einem weniger formell zugeht. Dem muss man sich bewusst sein.
Wie handhaben Sie es? Duzen Sie Ihre Kollegen?
Ich bin als externer Berater tätig. Wenn ich in ein Unternehme komme und dort ungefragt die Leute duzen würde, wäre das irritierend. Insofern biete ich von mir aus eigentlich nicht das Du an. Aber es dauert meist nicht lange, bis wir uns duzen. Mit den meisten meiner Kunden bin ich per Du. Einmal war ich beispielsweise als neuer Berater in einer Firma tätig und mit meiner Chefin noch per Sie. An einer gemeinsamen Telefonkonferenz mit einem herausfordernden Kunden duzte sie mich unvermittelt. Bei der nächstbesten Gelegenheit sagte sie: «Das Du ist mir nicht rausgerutscht, du und ich, wir müssen jetzt geschlossen auftreten».
Dieser Artikel erschien erstmals am 17.01.2019.