«In Zukunft aggregiert AI nicht nur Daten, sondern nimmt tatsächliche Handlungen vor», skizziert Nils Hafner die Kundenschnittstellen der nahen Zukunft. Was passiert punkto Customer Experience (CEX) bei Versicherungsgesellschaften in der Schweiz?
Die Customer Journey, also den Weg, auf dem Kundinnen und Kunden durch Onlineangebote geleitet werden, hat Interviewpartner Nils Hafner, Professor am Institut für Finanzdienstleistungen (IFZ) der Hochschule Luzern (HSLU), bereits fünfmal mit dem «CEX Trendradar» untersucht. Er kennt die Anforderungen und aktuellen Entwicklungen bei Versicherungen und Pensionskassen und ordnet sie ein.
Welche Entwicklungen haben Sie bei der Customer Experience (CEX) beobachtet, Nils Hafner?
Das Ganze wird methodischer. Worüber ich sehr froh bin. CEX wird bei Versicherungen auch immer strategischer eingesetzt. Die Frage: «Wie kann man mit einem verbesserten CEX mehr Geld verdienen?» dockt immer mehr an die wirtschaftlichen Tätigkeiten von Versicherungen an.
Wie haben sich Versicherungen verändert?
Wir hatten in der Anfangszeit am häufigsten folgende Situation: Man gründete speziell für CEX eine Abteilung. Der Auftrag: «Setzt mal die Kundenbrille auf.»
Und auf der anderen Seite haben Versicherungen damals sehr stark produktzentriert verkauft, sehr stark unternehmenszentriert verkauft. Heute wächst das alles zusammen.
Näher am Kunden zu sein und damit viel Geld zu verdienen, ist angesagt.
Nils Hafner ist Experte für die Etablierung langfristig profitabler Kundenbeziehungen. Er arbeitet als Professor für Kundenmanagement in der Finanzindustrie am Institut für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ) der Hochschule Luzern – Wirtschaft. Zusammen mit dem deutschen Berater Harald Henn gibt er seit 2020 jährlich den «CEX Trendradar» heraus. Nils Hafner ist ein gefragter Redner und Autor. (ajm)
Eine gute Customer Experience wird auch immer wichtiger?
CEX wird immer wichtiger und rückt in den Fokus des Topmanagements.
Und das Topmanagement stellt auch fest: Es macht keinen Sinn, wenn Marketing, Vertrieb, Kundenservice unterschiedliche Initiativen haben, die nicht miteinander koordiniert sind.
Zur Erklärung: In den vergangenen Jahren hat sich der Vertrieb und das Marketing auf der einen Seite vom Kundenservice, vom Kontaktcenter und vom Schaden auf der anderen Seite stark entkoppelt.
«Gefragt ist das alte Vertrauenskonzept von Sympathie und menschlicher Wärme, verbunden mit Kompetenz.»
Jetzt wachsen die Bereiche wieder stärker zusammen?
Ganz klar. Zum anderen ist es ja so: Versicherungen haben zu wenig Kundenkontakte – vor allen Dingen bei der klassischen Erstversicherung, wenn wir im Sach- oder auch im Lebensbereich sind.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Sie schliessen eine Automobilversicherung ab. Drei bis vier Jahre später haben Sie einen Schaden und werden auf ein Selfserviceportal geleitet, mit dem Sie sich nicht auskennen, denn alle paar Jahre sieht das Portal ja wieder anders aus.
Kommt mir bekannt vor …
(lächelt) Da Versicherer so wenig Kontakte zu ihren Kundinnen und Kunden haben, ist er eigentlich bei jedem Kontakt ein Fremder.
Das ist ein Nachteil, denn man könnte natürlich auch das Wissen über einzelne Kunden nutzen, um mehr relevante Kundenkontakte zu erhalten.
Erreicht man dieses Ziel jetzt schon durch verbesserte Kundenschnittstellen?
Man ist dabei. Aus Informationen über das Leben einer Kundin oder eines Kunden lassen sich natürlich sehr schöne Rückschlüsse ziehen, in welcher Lebensphase welche Produkte verkauft werden können.
Wie elegant klappt denn das Onboarding bei Versicherern?
(lacht)
Sie lachen jetzt …
Ja, ich lache jetzt, weil das Onboarding bei Versicherungen – wenn man es beispielsweise mit dem Banking vergleicht – eigentlich gar nicht so matchentscheidend ist.
Was wiegt schwerer?
Die allermeisten Versicherer haben eigentlich keine Beziehungsplattform mit den Kunden, im Gegensatz zum Banking, wo wir mit dem E-Banking eine ganz klare Beziehungsplattform haben, die Kunden zum Teil täglich nutzen.
Es ist nun die Frage, inwiefern eine solche Beziehungsplattform im Versicherungsumfeld Sinn macht.
Und? Macht es aus Ihrer Sicht Sinn?
Wenn Sie sich etwa Krankenversicherungen anschauen: Da macht das sehr wohl Sinn, seinen Kundinnen und Kunden relativ schnell zu erklären: «Pass auf, das ist deine App, das sind die Benefits, die du zugute hast mit diesem Vertrag, so kannst du eine Rechnung einreichen, so kannst du einen Benefit auslösen. Das sind die Dinge, die wir dir anbieten.» Wer das fantastisch macht, ist etwa Helsana.
«Als Kundinnen und Kunden stecken wir heute noch viel zu stark in administrativen Belangen fest. Das wird extrem abnehmen.»
Viele Versicherer schaffen es nicht, Kunden auf ihre App zu bringen – sodass sich die Kunden auch auskennen, wenn sie einen Schaden melden wollen.
Zugegeben: Beim Beispiel mit der Autoversicherung kommt «ein Fall» selten vor. Das ist die Schwierigkeit.
Was sind die grössten Fehler, die Versicherer bei der Customer Journey machen?
Die Kundin und der Kunde werden tatsächlich in der Sachversicherung, aber auch in der Lebensversicherung durchgängig als Fremde betrachtet.
Klar, Versicherer können nicht davon ausgehen, dass sich ihre Kundinnen und Kunden eine grosse Intimität mit ihrer Versicherung wünschen. Und so gesehen zählt jede einzelne Interaktion. Das ist sicherlich der Punkt, der für Sach- und Lebensversicherer ganz wichtig ist.
«Oh, wenn ich das wüsste, wäre ich wahrscheinlich extrem reich und CEO einer grossen Bank oder Versicherung.»
Und ich glaube, dass man mit einem Netzwerkgedanken durchaus weiterkommt, obwohl Ökosysteme momentan nicht im Fokus des Managements stehen, das muss ich auch ganz klar sagen.
Die Baloise Bank und die Baloise Versicherung führen ihren Kundenpool aus Versicherung und Banking zusammen. Macht das in Ihren Augen Sinn?
Absolut. Solche Überlegungen sind nicht gerade neu. Wir reden seit zwanzig Jahren oder länger über dieses Allfinanzthema.
Ich glaube, dass die Versicherer diesen Beziehungsansatz der Banken brauchen, um Daten zu gewinnen und aus dieser Ecke des «Umgangs mit Fremden» herauszukommen. Das scheint mir ein ganz, ganz wichtiger Punkt zu sein. Die Lösung hat etwas mit Daten zu tun und mit der Erhebung von Daten …
Und mit dem Teilen von Daten …
Ja, mit dem Teilen und Speichern von Daten.
Doch solche Netzwerkgedanken scheitern ganz häufig an den Alltagsfriktionen. Die Organisationen sind oft nicht gut miteinander verzahnt. Und es wird dem Thema des organisatorischen Wandels zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Wie kommt man aus dieser Problemzone raus?
Oh, wenn ich das wüsste, wäre ich wahrscheinlich extrem reich und CEO einer grossen Bank oder Versicherung.
Es gibt jede Menge methodische Ansätze, bloss scheint sie keiner ausser den vollintegrierten Unternehmen, wie beispielsweise einer Baloise-Gruppe, gut zu nutzen.
AI-Tools rücken beim Kundenkontakt immer mehr in den Vordergrund. Wohin geht die Reise?
Es geht sehr stark ins Agentische, auch ins Handelnde. In Zukunft aggregiert AI nicht nur Daten und stellt Informationen bereit, sondern nimmt tatsächlich bestimmte Handlungen vor.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Das fängt mit der in Automobilen verbauten künstlichen Intelligenz an. Eine Versicherungskunde hat einen Unfall und sagt: «Hey Auto, regle das mit meiner Versicherung.» Und die KI regelt das mit der Versicherung, die dann letztendlich für die Deckung aufkommt, bis hin zu der Zurverfügungstellung eines Ersatzwagens gleicher Klasse, gleicher Bauart, damit der Kunde sich nicht umgewöhnen muss. Der Kunde muss nichts mehr tun.
Eine schöne Vorstellung, wenn ich das mit heute vergleiche …
Ja. Als Kundinnen und Kunden stecken wir heute noch viel zu stark in administrativen Belangen fest. Das wird extrem abnehmen.
Versicherungen stehen zueinander im Wettbewerb und müssen sich in einem ausgereiften Markt nach der Decke strecken. Sind punkto KI-Einsatz die Grossen oder die Kleinen besser aufgestellt?
Sowohl als auch. Das ist von Fall zu Fall verschieden.
Die meisten grossen Unternehmen haben eine Technologiestrategie, die KI in grossem Mass umfasst. Es ist völlig klar, wie ein Endausbau aussehen sollte. Allerdings ist die Umsetzung häufig mit einem grossen Backlog verbunden.
Bei kleineren Gesellschaften ist das oft fokussierter, dafür steht die Technologie weniger im Vordergrund, da man hier weniger skalieren kann.
Ein schönes Beispiel für mich, wie man aus dem Dilemma herauskommen kann, ist die Signal Iduna Versicherung in Dortmund. Sie hat eine Software im Haus, die sich aufbauen und Low-Code sowie No-Code konfigurieren lässt. Über alle Touchpoints ausgebreitet ermöglicht dies so etwas wie eine «Multi-Experience».
Wo steht der Versicherungsmarkt in Bezug auf Kundenfreundlichkeit und Service in fünf Jahren?
Versicherungsgesellschaften werden sich einmal überlegen müssen: «Was ist überhaupt ein wertstiftender Kontakt für uns als Versicherer? Und was ist ein wertstiftender Kontakt für die Kundschaft?»
Und nur da, wo es für beide wertstiftend ist, muss ein persönlicher Dialogzustand stattfinden. Gefragt ist das alte Vertrauenskonzept von Sympathie und menschlicher Wärme, verbunden mit Kompetenz.
«Die Kundin und der Kunde werden durchgängig als Fremde betrachtet. Und so gesehen zählt jede einzelne Interaktion», betont Interviewpartner Nils Hafner.
Die meisten Unternehmen machen das mit einem wirklich genialen Aussendienst, mit Versicherungsberatern, die mit jedem über alles sprechen können, die sehr nahe an ihren Kunden sind. Diese Qualitäten müssen auf die zentralen Strukturen sehr gut übertragen werden. Indem man Prozesse automatisiert, das aber auch sympathisch macht.
Das Ganze kostet sehr viel Geld. Kommt es letztlich von den Prämienzahlern oder Versicherten?
Nein, ich glaube einfach, dass der Wettbewerb härter wird. Es rentiert für eine Gesellschaft nur, indem mehr verkauft wird, etwa im Sinne von Cross- und Upselling.
Wenn man sieht, dass das durchschnittliche Cross-Selling heute bei 1,2 Produkten liegt …
Bei den meisten Gesellschaften ist da auch durchaus noch Luft nach oben, wenn wir einmal von vier oder fünf Standardprodukten ausgehen. Und: Das alles – sowie auch die Customer Experience – kann man ganz hervorragend durch Software unterstützen. Wer das nicht macht, gerät ins Hintertreffen.