Die Schweizerische Nationalbank ( SNB) hat am Donnerstag vor steigenden Risiken auf dem Immobilienmarkt gewarnt. Das Direktorium um Präsident Thomas Jordan sorgt sich vor allem wegen der Entwicklung im Hypothekarmarkt: Es sieht Anzeichen für steigende Ausfallrisiken. Banken laufen Gefahr, auf einem Teil ihrer ausstehenden Kredite sitzen zu bleiben.
Jordans Warnung richtet sich auch an Raiffeisen: Als grösste Immobilien-Finanziererin spielt die Genossenschaftsbank eine wichtige Rolle im Markt. Ihr Chefökonom Martin Neff kann die Warnung der SNB nicht nachvollziehen. Er fordert sogar mehr Spielraum für die Banken – bei der Tragbarkeitsrechnung für die Hypothekenvergabe.
Die SNB sieht Risiken auf dem Immobilienmarkt. Sie schätzen die Lage anders ein.
Martin Neff: Ja. Wir können gerne das Rad einige Jahre zurückdrehen. Die SNB warnt seit 2011 vor Risiken im Immobilienmarkt. Die Situation sei hochgradig gefährlich. Fast sieben Jahre später stelle ich fest: Es ist nichts passiert – es ist keine Blase geplatzt. Aus den Gründen, die wir schon immer genannt haben: Im Eigenheimmarkt haben wir Selbstnutzer und keine Spekulanten, die kurzfristige Profite suchen. Auch der Mehrfamilienhausmarkt wird nicht von Spekulanten angetrieben: Kein institutioneller Investor kauft eine Renditeliegenschaft, um sie zwei Jahre später mit deutlich höheren Preisen wieder zu veräussern.
Die SNB erkennt steigende Anzeichen für Ausfallrisiken.
Wo die SNB diese Anzeichen sieht, ist mir ein Rätsel. Sie begründet die Ausfallrisiken mit Leerständen. Nach meinen Schätzungen haben wir in der Schweiz derzeit eine Leerstandsquote von 1,8 bis 2,0 Prozent. Das tönt nach viel. Aber es gibt viele Investoren, die gewisse Leerstände einkalkulieren. In einer neuen Überbauung haben sie eine Leerstandsquote von zwischen 10 und 15 Prozent, das ist heute normal.
Es ist kein Grund zur Sorge, dass viele Wohnungen leer stehen?
Nein. 1990 hatten wir Leerstandsquoten unter einem Prozent. Und dennoch ist ein Jahr später eine Blase geplatzt.
Werden viele Hypothekarschuldner in die Bredouille geraten, falls die Zinsen steigen?
Die SNB spricht seit 2012 von steigenden Zinsen. Seitdem sind die kurzfristigen Zinsen nicht gestiegen, im Gegenteil. Die SNB weiss am besten, wann die Zinsen steigen. Wenn ich die SNB- und EZB-Vertreter beim Wort nehme, bleiben die Zinsen bis zum nächsten Sommer tief. Es ist völlig offen, ob es dann noch ein starkes Potential für steigende Zinsen geben wird. Der Konjunkturzyklus ist mittlerweile fortgeschritten. Die Inflation müsste sprunghaft steigen – und dass glaubt niemand.
Die SNB sieht aber auch Risiken, sollten die Zinsen tief bleiben: Gewisse Banken könnten Hypotheken zu freizügig vergeben.
Die SNB gibt uns Banken fast gratis Geld und bestraft uns mit Negativzinsen, wenn wir das Geld nicht anlegen. Sie vermittelt uns Banken damit die Botschaft, das Geld in den Kreditkreislauf zu pumpen. Gleichzeitig hebt sie aber den Zeigfinger und warnt uns vor Risiken. Das verstehen sehr viele Leute nicht. Das ist so, wie wenn ich meinem Sohn ein schnelles Velo schenke, und ihm sage, er benötige dennoch keinen Helm – er solle einfach vorsichtig fahren.
Schweizer Banken wenden bei der Hypothekenvergabe den«kalkulatorischen Zinssatz» an. Dieser Satz von je nach Institut rund fünf Prozent liegt deutlich über dem Marktpreis für Hypotheken. Banken vergeben Hypotheken nur an Kunden, welche diesen Satz (plus eines Zuschlags für Unterhalt, Nebenkosten und Amortisationen) mit maximal einem Drittel ihres Einkommens finanzieren können. Der künstlich hoch angesetzte Vergabesatz soll sicherstellen, dass Schuldner durch Zinserhöhungen nicht in Zahlungsnöte geraten.
Raiffeisen ist die Nummer eins im Hypothekarmarkt. Haben Sie Ihre Risiken im Griff?
Sie müssen ja nur die Abschlüsse der Banken betrachten: Welche Ausfälle sie im Hypothekargeschäft erleiden. Wie hoch sind die ausstehenden Zinszahlungen Ende Jahr? Dann werden Sie feststellen: Es gibt fast keine Risiken, sie sind vernachlässigbar. Das ist meine Botschaft. Man macht einen riesigen Wirbel um einem Markt, der aktuell und in den letzten Jahren am sichersten ist und war.
Die Warnung der SNB bezieht sich aber auf die Zukunft.
Vor fünf Jahren hat die SNB auch von der Zukunft gesprochen, und lag in ihrer Einschätzung komplett daneben.
Das starke Wachstum von Raiffeisen und anderen Banken im Hypothekargeschäft ist aus Ihrer Sicht also unproblematisch.
Ja, es ist keine spekulationsgetriebene Blase, und deshalb besteht keinen Anlass, jetzt Regulierungsmassnahmen zu beschliessen, welche der Gefahrensituation überhaupt nicht angemessen sind.
Laut der SNB liegen die Kapitalpuffer gewisser Institute für das Hypothekargeschäft nur leicht über dem vorgeschriebenen Minimum. Spielt sie mit dieser Einschätzung auch auf Raiffeisen an?
Als Chefökonom von Raiffeisen kann ich dazu keine Stellung nehmen – für diese Frage müssen Sie sich bei der Bankleitung erkundigen. Aber es ist so: Wir sind relativ stark gewachsen, preisen Risiken aber angemessen ein.
Raiffeisen hat ihre Marktführerschaft im Hypothekargeschäft letztes Jahr ausgebaut.
Wir sind Marktführer nicht bei Renditeliegenschaften, sondern im selbstgenutzten Wohneigentum. Unser Marktanteil im Firmenkundengeschäft beläuft sich auf rund 10 Prozent – da sind andere Banken grösser. Wir sind maximal die Nummer drei oder vier in der Schweiz. Doch wir wachsen in diesem Segment, und das macht die SNB nervös. Wir wollen das Firmenkundengeschäft bewusst ausbauen.
Die SNB unterstützt auch das Vorhaben der Finanzmarktaufsicht, gewisse Institute strenger zu beaufsichtigen. Halten Sie diese Pläne für sinnvoller als eine stärkere Selbstregulierung?
Ja, eine enge Begleitung ist mir lieber, als wenn ein ganzer Markt pauschal reguliert wird.
Raiffeisen könnte einer dieser Institute sein, die strenger beaufsichtigt würden.
Raiffeisen muss sich nicht verstecken.
Sie haben in der Vergangenheit den kalkulatorischen Zinssatz kritisiert. Halten Sie an dieser Kritik fest?
Ja, es sind drei Jahre vergangen, seit wir das Anliegen in der Öffentlichkeit platziert haben, und seitdem hat sich der durchschnittliche Zinssatz noch einmal deutlich reduziert. Wir sind mit unserem Anliegen richtig gelegen. Wir wenden bei Raiffeisen diesen kalkulatorischen Zinssatz an, mit wenigen, streng regulierten Ausnahmen. Wir rechnen mit einem Zinssatz von 5 + 1. Im Schnitt sind Kunden aber zu einem Satz von eineinhalb und zweieinhalb Prozent refinanziert. Sie müssen sich nun vergegenwärtigen, wie stark die Zinsen steigen müssten, bis das Niveau des kalkulatorischen Zinssatzes erreicht wird. Dieses Missverhältnis ärgert mich.
Wenn der kalkulatorische Zinssatz aufgeweicht wird, dürfte sich der Immobilienmarkt weiter befeuern. Das ist nicht im Sinn der Aufsichtsbehörden.
Das ist eine falsche Annahme. Für gut situierte Leute spielt der kalkulatorische Zinssatz keine Rolle. Es geht um das Segment, welches sich wegen der strikten Anwendung des kalkulatorischen Zinssatzes kein Wohneigentum leisten kann, also schwächer verdienende Haushalte. Die würden sich keine teuren Häuser kaufen, sondern beispielsweise eine 3,5-Zimmer-Wohnung.
Es würden dennoch neue Kunden entstehen, die Hypotheken nachfragen.
Das hängt davon, ob die neuen Kunden überhaupt Angebote im Markt finden – heute haben sie Mühe, bezahlbare Wohnungen oder Häuser zu finden.
Faktisch würden aber mehr Hypotheken vergeben.
Ja, hoffentlich. Wir wollen ja Wohneigentum fördern, das steht auch in der Bundesverfassung.
Aber die Risiken, vor der die SNB warnt, würden steigen.
Falls wir den kalkulatorischen Zinssatz auf 4 Prozent senken, würde er dennoch rund 50 Prozent über dem aktuellen Satz im Markt zu liegen kommen. Statt 6 zu 2 wie aktuell würden das Verhältnis 4 zu 2 betragen. Das ist weit entfernt von der Gefahrenzone.
Auch mit einem tieferen kalkulatorischen Zinssatz könnten Hypothekarschuldner eine Zinserhöhung überstehen?
Nicht nur eine, mehrere. Ein solches Zinsszenario ist derzeit unwahrscheinlich.