Die Harvard-Universität steht nach dem Sturz von Präsidentin Claudine Gay zunehmend unter Druck, eines der umstrittensten Kapitel ihrer Geschichte zu lösen. Die erste afroamerikanische Leiterin der Schule trat am Dienstag nach nur sechs Monaten zurück. Gay stolperte über Plagiatsvorwürfe und die öffentliche Wut über ihren Umgang mit Antisemitismus auf dem Campus nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober.
Der Tumult hat die Marke der ältesten und reichsten US-Universität getrübt, zu einer Revolte unter ihren wohlhabenden Spendern geführt und die Kluft zwischen Lehrkräften, Studierenden und Administratorinnen vertieft. Die oberste Harvard-Leitung muss nun eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger finden. Dies, während die Universität im Zentrum verbreiteter nationaler Debatten über akademische Freiheit, freie Meinungsäusserung, Vielfalt und Führungspolitik steht – Themen, die die Universität jahrelang gespalten haben.
«Die Situation sollte Harvard nutzen, um Bilanz zu ziehen und herauszufinden, wie wir in diese Schwierigkeiten geraten sind – und um Änderungen vorzunehmen, die den Ruf wiederherstellen», sagte Steven Pinker, Harvard-Professor für Psychologie und bekannter Autor. «Jetzt ist es für Harvard an der Zeit, eine Grenze zwischen der Zukunft und der Umsetzung von Reformen zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der Hochschulbildung im Allgemeinen zu ziehen.»
Milliardäre geben kein Geld mehr
Die oberste Harvard-Behörde sagte, sie habe Gays Rücktritt mit Bedauern angenommen. Der mittlerweile elfköpfige Vorstand unter der Leitung der ehemaligen Handelsministerin Penny Pritzker ernannte Alan Garber zum Interimspräsidenten und hielt fest, dass er sich auf die Suche nach einem neuen Vorsitzenden begebe. Vor etwas mehr als einem Jahr wurde Gay unter 600 Kandidaten und Kandidatinnen ausgewählt.
Der Ruf der Universität wurde beschädigt, als Gay nur zögerlich mehr als dreissig Studentengruppen verurteilte, die allein Israel für den Hamas-Angriff verantwortlich machten. Larry Summers, ein ehemaliger Harvard-Präsident, bemerkte dazu kurz darauf, die zurückhaltende Reaktion der Universität sei «ekelhaft».
Gay versuchte, die Kontroverse im Keim zu ersticken. Doch es kam anders. Die Situation eskalierte, als die Proteste zunahmen und sich die Berichte über antisemitische Vorfälle in den sozialen Medien häuften. Geldgeber wie die Milliardäre Idan Ofer und Leslie Wexner stellten ihre Unterstützung ein, während US-Senator Mitt Romney der Universität vorwarf, sie ignoriere die Sicherheit jüdischer Studierender.
Aufruhr im US-Kongress
Die Aufregung verstärkte sich, als Gay am 5. Dezember vor dem US-Kongress erscheinen musste, um über Antisemitismus an US-Universitäten auszusagen. Auf Fragen der Abgeordneten Elise Stefanik, einer New Yorker Republikanerin, reagierten Gay und ihre Kolleginnen von der University of Pennsylvania und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT), indem sie Aufrufe zum Völkermord an Juden und Jüdinnen nicht als Verstoss gegen die Hochschulpolitik verurteilten.
Penn-Präsidentin Liz Magill trat einige Tage später zurück. Auch Gay sah sich einer Welle von Rücktrittsaufrufen ausgesetzt, unter anderem von Stefanik, Investor Bill Ackman und anderen Harvard-Alumni.
Professor Avi Loeb – seit 1993 in Harvard – sagte, er sei entsetzt über Gays Aussage. Der weltbekannte Astronom, der in Israel aufgewachsen ist und 65 Familienmitglieder seines Vaters durch den Holocaust verloren hat, zeigte sich besorgt ob der langfristigen Auswirkungen auf die Schule – etwa beim künftigen Sammeln von Spendengeldern und der Zusammenarbeit mit den Gesetzgebern in Washington. «Die Konsequenzen liegen auf der Hand», sagte Loeb vor Gays Rücktritt.
Fakultätsmitglieder stützten Gay
Doch 700 andere Fakultätsmitglieder, viele davon von der Fakultät für Künste und Naturwissenschaften, brachten im Anschluss an die Anhörung ihre Unterstützung für Gay zum Ausdruck. Sie unterzeichneten eine Petition, in der sie «die Unabhängigkeit der Universität» verteidigten, und forderten ihre Führung auf, «sich politischem Druck zu widersetzen, der im Widerspruch zu Harvards Engagement für akademische Freiheit steht».
Eine der Unterzeichnerinnen war Professorin Suzanne Blier, die Gay als Präsidentin unterstützt hatte. «Der Rücktritt von Präsidentin Gay wird den demoralisierenden nationalen Verfall der Höflichkeit nicht stoppen», sagte Blier, Professor für Bildende Kunst sowie für Afrika- und Afroamerikanistik. «Wir brauchen eine ruhige und vernünftige Diskussion, um Respekt und gegenseitiges Vertrauen zu fördern – und nicht noch mehr Spaltung.»
Wie einige von Gays weiteren Unterstützern war Blier Teil einer Gruppe gewesen, die Jahre zuvor versucht hatte, Summers von Harvards Spitzenposten zu entfernen. Er trat vor fast 18 Jahren zurück, nachdem es zu Auseinandersetzungen mit der Fakultät gekommen war, unter anderem wegen Bemerkungen, die er über die Eignung von Frauen für Naturwissenschaften und Technik gemacht hatte.
Diversität als grosser Streitpunkt
Gay, eine Tochter haitianischer Einwanderer, wurde 2022 zur viel gepriesenen Nachfolgerin von Lawrence Bacow gewählt. Ihre Forschung als Politikwissenschafterin konzentrierte sich oft auf Rassenfragen. Eines der Markenzeichen ihrer Führungsrolle war die Förderung von Diversitäts-, Gleichberechtigungs- und Inklusionspolitiken. Mitte 2023 übernahm sie die Leitung der Harvard-Universität, nur wenige Tage nachdem der Oberste Gerichtshof der USA die Rassenzugehörigkeit als Faktor bei der Zulassung von Studierenden gestrichen hatte.
«Als ich Präsidentin wurde, fühlte ich mich besonders gesegnet durch die Gelegenheit, Menschen aus der ganzen Welt zu dienen, die in meiner Präsidentschaft eine Vision von Harvard sahen, die deren Zugehörigkeitsgefühl bestärkte – das Gefühl, dass Harvard talentierte und vielversprechende Menschen aus allen Welten willkommen heisst. Es ist wichtig, voneinander zu lernen und miteinander zu wachsen», teilte Gay in ihrem Kündigungsschreiben mit. Sie bleibt an der Harvard-Fakultät.
Diversität, Gleichstellung und Inklusion (DEI) werden jedoch immer wieder von konservativen Gesetzgebern und Expertinnen torpediert. Nach der Anhörung vor dem Kongress verstärkten sich diese Angriffe, auch vonseiten des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Vivek Ramaswamy. Investor Bill Ackman, der die Demokraten unterstützt, konzentrierte seine Kritik an Harvard zunehmend auf die DEI-Initiativen und deutete an, dass Gays Ernennung das Ergebnis dieser Bemühungen sei.
Einer seiner ehemaligen Professoren bezeichnete Ackmans Kommentare zu Gays Auswahl als «Hundepfeife» gegen schwarze Frauen. Ackman wies diese Behauptung zurück.
Nachdem Gay ihren Rücktritt angekündigt hatte, sagte Ackman in einem ausführlichen Beitrag auf X (ehemals Twitter), er habe immer «Vielfalt in ihrer breitesten Form» unterstützt, einschliesslich Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, sozioökonomischen Hintergrunds, sexueller Identität, Ansichten und Politik. Jedoch sagte er auch, DEI sei zu einer «politischen Lobbybewegung für bestimmte Gruppen geworden, die als unterdrückt gelten».
Ackman sagte weiter, dass Pritzker und andere Vorstandsmitglieder der obersten Harvard-Behörde zurücktreten sollten. Laut Berichten will Pritzker aber von einem Rücktritt nichts wissen.
Die Harvard-Leitung berichtete, Gay habe «abstossende und in manchen Fällen rassistische Gehässigkeit» in Mails und Telefonanrufen erfahren. In ihrem Brief schrieb Gay, die letzten Wochen hätten verdeutlicht, was getan werden müsse, um «Vorurteile und Hass in all ihren Formen zu bekämpfen» und ein Lernumfeld zu schaffen, «in dem wir die Würde des anderen respektieren und uns gegenseitig mit Mitgefühl behandeln».
Plagiatsvorwürfe gegen Gay
Letztendlich wurde Gay durch die zunehmenden Plagiatsvorwürfe gestürzt, die ihre akademischen Publikationen betreffen. Darunter auch neue Vorwürfe, die diese Woche veröffentlicht wurden. Ein Ausschuss des Repräsentantenhauses hat die Harvard-Universität gebeten, Fragen zu ihren akademischen Integritätsstandards und zum Umgang mit Gay zu beantworten.
«Wir sollten an alle die höchsten Standards stellen, und Harvard sollte Wissenschafter und Wissenschafterinnen auf höchstem Niveau als Mitglieder der Fakultät und als Leiter der Universität haben», sagte David Weitz, ein Physikprofessor, der seit 1999 in Harvard ist, vor Gays Rücktritt. «Wie kann ich meinen Studierenden sagen, dass sie nicht plagiieren sollen? Warum gibt es unterschiedliche Standards? Ich verstehe es einfach nicht.»
Für Harvard wird es nicht einfach sein, dem Abwärtsstrudel zu entfliehen. Viele Geldgeber haben ihre Beziehungen abgebrochen. Auch ist die Zahl der frühzeitigen Anträge für eine Aufnahme an der Harvard um alarmierende 17 Prozent zurückgegangen.
«Erst der Anfang einer Abrechnung»
Auch der Kongress übt weiterhin Druck aus. Zusätzlich zur Plagiatsuntersuchung nimmt ein Komitee weitere Antisemitismusvorwürfe im Universitätsumfeld unter die Lupe. Elise Stefanik, die sich nach Gays Rücktritt als Siegerin aufspielte, sagte, es sei «erst der Anfang einer Abrechnung».
Harvard-Professor Steven Pinker hat vorgeschlagen, eine klare Politik zur akademischen Freiheit zu verfolgen, eine breite Palette von Standpunkten zu fördern und institutionelle Neutralität zu wahren, indem man Äusserungen zu aktuellen Ereignissen vermeidet. «Es geht nicht nur um Harvard, sondern um Hochschulbildung und Institutionen im Allgemeinen», sagte Pinker.
(bloomberg/dob)
1 Kommentar
So, warum schreiben Sie dann nicht klar, dass die reichen Jüdischen Amis keine Spenden mehr machen.
Das dieser Kommentator kompetent genug ist über die Verhältnisse an der UNI zu Urteilen sowie die Person in dieser ab zu Urteilen ist mehr als unangebracht.