EqualVoice ist eine führende Initiative für mehr Diversität in den Medien. Wie kam es dazu?

Am Anfang stand die Feststellung, dass es in der medialen Berichterstattung ein grosses Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern gibt. 82 Prozent der Artikel drehten sich um Männer. Das heisst, nur 18 Prozent blieben für die Frauen übrig. Da muss man sich ja schon die Frage stellen, warum das so ist. 

Wie sind Sie vorgegangen?

Als Finanzchefin liebe ich Daten und Zahlen. Entsprechend wichtig war mir, dass unsere Initiative sehr faktenbasiert ist. Wir haben deshalb einen Algorithmus entwickelt, mit dem wir messen, wie oft Frauen und Männer in unseren Publikationen zu Wort kommen; als Autoren und Autorinnen und als Personen, über die berichtet wird. Wir haben diesen Algorithmus dann auch von der ETH überprüfen lassen, um sicherzugehen, dass er höchste Standards erfüllt. Das war mir sehr wichtig, um auch international ein Potenzial zu haben, diese Initiative auszubreiten.

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Gab es Projekte bei anderen grossen Medienhäusern, die ihr euch zum Vorbild nehmen konnten?

Nein, was wir hier machen, ist wirklich neu. Wir haben uns ein Projekt bei der BBC angeschaut, aber das hat uns nicht wirklich überzeugt. Wenn Journalisten und Journalistinnen am Abend nach einem langen Arbeitstag noch Excel-Tabellen zur Präsenz der Geschlechter in ihren Berichten ausfüllen müssen, dann ist das nicht praktikabel. Uns war sofort klar, dass wir das bei Ringier niemals durchbekommen werden, wenn die Journalisten und Journalistinnen alles von Hand auszählen müssen und dass es deshalb eine KI-Lösung braucht. 

Wie kam es, dass Sie als Finanzchefin EqualVoice zu ihrem Thema machten?

Ich habe das grosse Privileg, Finanzchefin von Ringier sein zu dürfen. Ich bin der Meinung, dass auch die Verpflichtung mit sich bringt, dass ich mich dafür einsetze, dass wir uns mit Rollenbildern auseinandersetzen.  Das gehört zu meiner Verantwortung; dass ich meine Stimme dafür einsetze, dass wir uns mit Rollenmodellen in unseren Köpfen auseinandersetzen. Denn eines ist klar: Sie sind absolut beliebig. 

Journalisten und Journalistinnen sind unabhängige Menschen, die sich nicht gerne Vorschriften machen lassen. Wie seid ihr bei der Implementierung von EqualVoice vorgegangen?

Ich habe mit jedem Chefredakteur, mit jeder Chefredakteurin in unserem Unternehmen persönlich das Gespräch gesucht. Dabei ging es zunächst gar nicht so sehr um die Implementierung, sondern vor allem darum, Fragen zu stellen wie: Wie seht ihr die Sache mit den Rollenmodellen? 

Und?

Ich habe dann sehr schnell gemerkt, dass man viel über Bauchgefühle sprechen kann, dass es aber letztlich Zahlen braucht, um Klarheit zu bekommen. Und sobald die vorlagen, konnten wir die Diskussion auf einem viel höheren Niveau führen. Ich habe versucht, das Ganze sehr spielerisch anzugehen, im Sinne von: Schauen wir doch mal, was uns die KI sagt, und dann sehen wir weiter, und wenn die Zahlen keinen Handlungsbedarf zeigen, dann können wir das Projekt sofort stoppen. Doch die Zahlen haben dann halt schon gezeigt, dass es grosse Diskrepanzen gibt. 

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Und wie waren die Reaktionen, als die Zahlen dann schwarz auf weiss vorlagen? 

Sehr positiv. Die Bereitschaft, sich mit den Fakten auseinanderzusetzen, war sehr gross, was mich sehr gefreut hat. Klar gab es einen gewissen Reflex der Verteidigung. Doch das hat sich schnell gelegt, als wir dann zusammen mit den Redaktionen in die Workshops gingen und uns überlegten, wo wir hin wollen und wie wir Gegensteuer geben können. Wichtig ist: EqualVoice ist kein Projekt, das Top Down umgesetzt wurde. Die Massnahmen kamen aus den Redaktionen – und zwar nicht nur von den Chefredaktorinnen und Chefredaktoren, sondern auch von den Teams. Auch die Ziele haben sich die Redaktionen selbst gesetzt. Wir haben in der Schweiz 25 Prozent Frauen in den Verwaltungsräten. Da macht es keinen Sinn, sich in einer Wirtschaftspublikation ein 50/50-Ziel zu setzen. Das würde die Realität nicht abbilden.

Wo lag die «Handelszeitung» und wo liegt sie heute?

Die «Handelszeitung» hat einen hervorragenden Job gemacht. Sie ist mit  17 Prozent gestartet. Das heisst, 83 Prozent der Berichterstattung und der Autoren und Autorinnen waren Männer. Jetzt liegt der Frauenanteil bei 30 Prozent. Das ist ausgezeichnet. 

Ringier ist ein kommerziell orientiertes Unternehmen. Ist EqualVoice ein Business Case?

Am Anfang hatten wir uns bewusst keine geschäftlichen Ziele gesetzt. Wir wollten nicht, dass sich kommerzielle Interessen mit der Idee hinter dem Projekt vermischen. Umso spannender ist es zu sehen, dass unsere User und Userinnen heute zu 50 Prozent weiblich sind. Es ist also sehr wohl möglich, mehr Frauen zu erreichen, wenn man weibliche Rollenmodelle stärker in den Vordergrund rückt. Das gilt übrigens auch für die Abonnentinnen und Abonnenten. Auch hier hat sich das Geschlechterverhältnis zugunsten der Frauen verändert. Ich bin der Meinung, dass das kleine Cases sind und dass man nun schauen sollte, wie sie sich weiter entwickeln. 

Wo steht die Initiative heute?

Wir sind bei unseren Publikationen gestartet, aber inzwischen ist EqualVoice weit mehr. Inzwischen haben sich 18 Schweizer Wirtschaftsunternehmungen ausserhalb der Medienbranche EqualVoice United angeschlossen. Wir wollen, dass Geschlechtergleichheit in der Schweiz Wirklichkeit wird. Das ist unser Ziel, daran arbeiten wir.

Sie sind Finanzchefin von Ringier. Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen als Topmanagerin?

Sehr gut. Ich konnte mich immer darauf verlassen, dass die Leistung zählt und nicht das Geschlecht. Ich stelle allerdings immer wieder fest, wie häufig ich auf meine Doppelrolle als CFO und Mutter angesprochen werde. Ich bin überzeugt, dass das nicht so wäre, wenn ich ein Mann wäre. Vereinbarkeit von Familie und Beruf, das ist ein Thema, das man offenbar doch immer noch weitgehend mit den Frauen in Verbindung bringt.

Das ist eine Frage, die ich mir häufig stelle, wenn ich Interview mit Top-Managerinnen mache. Soll ich fragen, wie das denn war mit der Ausbildung und der Familie? Manchmal kann es auch einen Erkenntnisgewinn bringen. So hat mir etwa Fiona Marshall, die neue Forschungschefin von Novartis, erzählt, dass es für sie unter anderem schon deshalb vor Jahrzehnten völlig selbstverständlich war, Biochemie zu studieren, weil sie in einer reinen Mädchenschule war und weil den Mädchen da gesagt wurde, dass sie alles studieren können. 

Das sehe ich auch so. Ich finde es immer super spannend, wenn ihr als Journalistinnen und Journalisten Kontext schafft und deshalb finde ich solche Fragen völlig legitim. Denn sie beschreiben ja den Werdegang einer Person. Meine Frage an Sie aber wäre: Stellen Sie solche Fragen auch einem Mann?

Das ist eine spannende Frage. Und ich muss sagen, ja, zunehmend. Wenn ich weiss, dass ein Konzernchef noch jüngere Kinder hat, dann frage ich schon mal, wie er das denn macht, dass er auch mal etwas mit ihnen unternehmen kann. Ich denke: EqualVoice kann man ja auch so verstehen. Dass man Männern Fragen stellt, die man sonst nur Frauen stellt.

Das sehe ich auch so. 

Haben Sie Strategien entwickelt, um in einem doch sehr von Männern dominierten Umfeld zu bestehen?

Als erstes muss das Handwerk sitzen. Und das habe ich über viele Jahre gelernt. Ich bin ein Mensch, der jeden Tag etwas dazulernen möchte. Dann kam ein zweiter Faktor hinzu: die Authentizität. Bin ich glaubwürdig? Bin ich transparent? Wie nehme ich mein Team mit? Was ist meine Vision? Wie ist die Strategie? Wie greifbar bin ich in der Umsetzung? Ich bin überzeugt, dass es eine Kombination aus Ratio und Emotion braucht, um als Führungskraft erfolgreich zu sein und daran zu arbeiten. Wie war Ihre Erfahrung als Frau im Journalismus?

Ich bin ja etwas älter als Sie und meine Erfahrung war eigentlich immer, dass ich die einzige Frau im Team war. Dass ich mehrere Kolleginnen habe, wie ich das jetzt bei der Handelszeitung habe und dass sich damit auch kulturell etwas verändert, das ist für mich eine ganz neue Erfahrung. Endlich bin ich aus dieser Exotinnenrolle heraus. Wie war das bei Ihnen?

Ich war jahrelang die einzige Frau in der Geschäftsleitung. Ein Vorteil war, dass ich an einer sehr männerdominierten Universität Wirtschaftswissenschaften studiert habe. Ich habe deshalb schon früh gelernt, wie man sich in einem Haifischbecken überlebt. 

Wie schafft man das? Ich meine, mutig zu sein, sich einzubringen, zu sich zu stehen, nicht versuchen, zu gefallen. 

Es ist immer leicht zu sagen, sich selbst zu sein. Als ich damals sehr jung Finanzchefin wurde, konnte ich das noch nicht. Ich habe versucht, den Erwartungen zu entsprechen. Das fing damit an, dass ich mich so kleidete, wie ich dachte, dass man es von einer Finanzchefin erwartet. Oder wie ich Meetings durchführte, immer sehr faktenbasiert. Doch dann bin ich immer mehr in die Rolle hineingewachsen und habe gemerkt, dass ich durchaus etwas mehr Annabella in die Rolle einbringen darf. Und inzwischen mache ich keinen Unterschied mehr zwischen mir als Privatperson und mir als Finanzchefin. 

Schauen wir zum Schluss noch etwas nach vorne. Aktuell ist Geschlechterparität gross en vogue. Wie gross ist die Gefahr, dass es zu einer Fatigue kommt, dass die Leute irgendwann nichts mehr von dem Thema hören wollen?

Mit EqualVoice haben wir den Zeitgeist absolut getroffen. Und wie immer, wenn es um den Zeitgeist geht, besteht die Gefahr, dass andere Themen in den Vordergrund rücken. Doch EqualVoice hat nichts Kämpferisches, es ist inklusiv. Es gibt keine lila Fahnen und keine Demos. Das war mir immer wichtig. Zudem soll es Spass machen. Nur so können wir auch langfristig erfolgreich sein. Ich bin sehr glücklich, dass es uns gelungen ist, dieses Momentum zu kreieren. Wir haben viele Steine ins Wasser geworfen und das Wasser ist bis jetzt nie still gestanden. Inzwischen sind wir in 32 internationalen Märkten aktiv und erreichen 50 Millionen Userinnen und User mit der Initiative, bis in einem Jahr sollen es 100 Millionen werden. Aber ich bin auch sehr demütig, denn ich weiss, dass wir erst am Anfang stehen. Bis  Ende 2025 wollen wir 100 Millionen Userinnen und User  erreichen.

Wie gross schätzen Sie die Gefahr eines Rollbacks ein? 

Ich bin überzeugt, dass gesellschaftliche Transformationen einfach eine gewisse Zeit brauchen. Entscheidend wird sein, dass wir unserem Markenkern und der technologiebasierten Betrachtung, treu bleiben und dass wir uns nicht verlieren. Dann bin ich überzeugt, dass unsere Initiative eine grosse Zukunft haben wird.