Die Kurse der Mineralölkonzerne dürften sich wieder erholen. Langfristig zählt, dass diese die Energiewende nicht verpassen.
Ist das Schlimmste schon überstanden? Oder geht das Siechtum weiter? Seit dem Ausbruch der Corona-Krise vor einem Jahr steckt die Öl- und Gasbranche in der Krise. Damals tauchten die Aktienkurse der grossen westlichen Mineralölkonzerne tief.
Weil viel weniger Auto gefahren wurde, viele Flugzeuge am Boden blieben und die Industrietätigkeit nur noch gedrosselt weiterlief, brach die Nachfrage nach Öl um 25 bis 30 Prozent ein. Der Ölpreis sackte deshalb um 70 bis 80 Prozent ab.
Auf die Kurse der Supermajors drückte nebst dem Nachfrageeinbruch beim Öl auch, dass aus Sorge um den Klimawandel immer mehr Anleger auf Abstand zu Investments in fossile Energiegewinnung gehen. Sie ziehen Geld ab, weil sie entsprechende Investments als moralisch nicht mehr zulässig erachten oder weil sie schlicht befürchten, dass die Ölbranche auf «Stranded Assets» sitzen bleibt, dass also ein Grossteil der Öl- und Gasvorräte unter dem Boden nie gefördert und damit nicht zu Geld gemacht werden kann.
Bis zu 40 Prozent tiefer als vor Corona
Inzwischen hat sich der Ölpreis mehr oder weniger erholt und sich zwischen 50 und 60 Dollar pro Barrel eingependelt. Die Aktienkurse der meisten grossen westlichen Mineralölkonzerne liegen jedoch noch immer um 20, 30 oder sogar 40 Prozent unter dem Niveau, das sie vor der Krise hatten. Manch ein Investor fragt sich, ob sich diese Kurse überhaupt je wieder erholen – oder ob sie nicht wie die Bankentitel nach der Finanzkrise dauerhaft tiefer bewertet bleiben. Auch Banken wie die UBS und die CS erreichten nach 2008/2009 ihre Niveaus von vor der Finanzkrise bis heute nicht mehr. Anleger, die auf eine rasche Erholung der Bankentitel hofften und investierten, wurden enttäuscht.
1,72 Milliarden Liter Öl produzieren die USA als förderstärkstes Land der Welt jeden Tag.
Unter Analysten herrscht aber vorsichtige Zuversicht, dass die Kurse von Big Oil wieder steigen. «Wir denken, dass eine Erholung kommen wird, sobald die Verlässlichkeit des Öl- und Gassektors als nachhaltig profitabel und mit guter Aktionärsrendite wiederhergestellt ist», sagt Rudolf Leemann, Analyst bei der UBS. Das werde aber wohl eher nicht 2021 passieren.
Etwas optimistischer gibt sich Daniel Benz, Rohstoffanalyst bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB). «Das Sentiment um die Öltitel dürfte sich 2021 zusehends verbessern – und die Unterbewertung des Sektors dürfte weiter korrigiert werden», so Benz. Zentral sei natürlich die Überwindung der Covid-19-Krise, damit die erwartete Erholung der Nachfrage nach Öl einsetzen könne.
Wenn der Motor wieder brummt
André Frick, Aktienanalyst bei Vontobel, verweist auf den Kursanstieg bei den Ölaktien, der seit letztem November stattgefunden hat. «Das dürfte über die nächsten Monate oder sogar darüber hinaus anhalten», ist er überzeugt. Wenn der Motor wieder normal brumme, könne Rohöl vom relativ ungewollten Gut plötzlich wieder zum knappen Gut werden, was die Preise steigen lassen dürfte.
Auch Nicolas Hefti, Senior Investment Advisor bei der Basler Kantonalbank (BKB), erachtet die Entwicklung der Öl- und Gaspreise für die Aktienentwicklung von Big Oil als entscheidend. Aufgrund des letztjährigen Crashs am Ölmarkt hätten die Unternehmen die Kosten deutlich senken müssen. Die Investitionskosten lägen nun auf einem historisch betrachtet extrem tiefen Niveau. «Ebenfalls deutlich zurück gingen die operativen Kosten», sagt Hefti. «Das führt dazu, dass die integrierten Ölkonzerne von der Kostenseite her eine gute Ausgangslage haben.»
5,70 Billionen Liter betrug der weltweite Ölverbrauch im bisherigen Rekordjahr 2019.
Matthias Müller, Finanzanalyst bei der St. Galler Kantonalbank (SGKB), erachtet es hingegen als fraglich, ob die Aktienkurse der Öl- und Gaskonzerne wieder auf das Niveau zurückkommen, das sie vor einigen Jahren hatten. «Die Unternehmen müssen sich auf den Energiewandel einstellen, der irgendwann kommt. Denn bei der Ölnachfrage wird der Peak irgendwann in den nächsten Jahren erreicht sein.»
Die Öl-Majors haben letztes Jahr zum grössten Teil happige Verluste eingefahren. Ins Gewicht fielen vor allem Berichtigungen ihrer Vermögenswerte: Laut einer Recherche des «Wall Street Journals» hat die Branche 2020 Wertberichtigungen im Umfang von 145 Milliarden Dollar vorgenommen. Um zu sparen, haben die grossen Mineralölkonzerne Investitionen gekürzt und Personal entlassen.
CO₂-Belastung senken
Um auch ihre langfristige Existenz zu sichern, verstärken vor allem die europäischen Konzerne wie Shell, BP oder Total die Anstrengungen, ihre CO₂-Belastung zu senken. Sie wollen sich von «Big Oil» zu «Big Energy» transformieren, investieren in erneuerbare Stromproduktion und setzen auf Effizienzgewinne bei der Ölförderung, auf CO₂-Speicherung und auf CO₂-Kompensationen.
Der Weg zum nachhaltigen Unternehmen sei extrem aufwendig und bedinge grosse Investitionen, betont Matthias Müller von der SGKB. «Die europäischen Ölgesellschaften sind von ihrer Struktur her aber gut darauf vorbereitet.» Die Voraussetzungen für das Gelingen der Pläne seien gut, attestiert auch Rudolf Leemann von der UBS. «Die Nachfrage nach Öl und Gas wird wohl noch genügend lange anhalten, um den Wandel auch finanzieren zu können.»
Um 9,4 Prozent wird sich der Ölverbrauch bis 2045 erhöhen – trotz Klimapolitik.
Die meisten der befragten Analysten erachten ein Investment in die Ölbranche unter diesen Vorzeichen als durchaus empfehlenswert. «Bei einem Anlagehorizont von ein bis drei Jahren macht es Sinn, noch bei Big Oil einzusteigen», meint André Frick von Vontobel. Als grösste Risiken stuft er dabei ein Versagen des Impfstoffs gegen Covid-19 sowie einen weiteren weltweiten Wirtschaftsabschwung ein.
Daniel Benz von der ZKB veranschlagt das Kurspotenzial für «Big Energy» auf rund 20 Prozent. «Die europäischen Vertreter, welche wesentlich attraktiver bewertet sind, würden wir dabei favorisieren.» Auch Nicolas Hefti von der BKB setzt auf die europäischen Öl- und Gasunternehmen, «weil diese sich im Vergleich zu den US-amerikanischen Konkurrenten proaktiv auf die Energiewende vorbereiten und deshalb für eine breitere Investorenschicht investierbar bleiben».